Rechtsextremismus nicht unterschätzen
Der Mord an Jo Cox verdeutlicht wieder einmal, dass die wachsende Gefahr durch rechtsextreme Einzeltäter unterschätzt wird, warnt der New Statesman:
„Ein Bericht des Sicherheits-Thinktanks Royal United Services Institute aus diesem Jahr ergab, dass 38 Prozent aller von 'einsamen Wölfen' verübten Terrorattacken in Zusammenhang mit islamistischem Extremismus standen. 33 Prozent hatten einen rechtsextremen Hintergrund. ... In Großbritannien wurde es dem Rechtsextremismus ermöglicht, sich an der Seite einer giftigen Rhetorik rund um das Thema Zuwanderung auszubreiten. Was kann der Grund für diese Blindheit sein, wenn nicht Voreingenommenheit? Wenn Extremismus weiterhin ständig als das Problem einer einzelnen Gruppe und nicht als gesamtgesellschaftliches Problem dargestellt wird, dann wird dieser weiter gären. Und das droht unsere Gesellschaft von innen zu zerstören.“
Emotionen sind stärker als Argumente
Der tragische Tod der Labour-Abgeordneten bringt der Kampagne gegen den Brexit mehr Stimmenzuwächse, als jedes mit Tatsachen begründete Argument, beobachtet der Politikwissenschaftler Ramūnas Vilpišauskas in einem Kommentar der Nachrichtenagentur BNS:
„Durch die Trauer über den Tod von Jo Cox, die aktiv für den Verbleib in der EU geworben hat, und die Haltung des Premiers und anderer EU-Befürworter ist es möglich, die unentschiedenen Wähler zu gewinnen, besonders die der Jugend. So paradox es auch klingt: den Brexit-Befürwortern, die hauptsächlich auf Stimmungsmache gesetzt haben, werden nicht die sachlichen Bremain-Argumente schaden, sondern die echten Emotionen der Wähler.“
Für die Idee des vereinigten Europas gestorben
Die ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox war mehr als nur ein Opfer faschistischer Gewalt, schreibt die Tageszeitung Politis:
„Cox hatte den Mut, in der Öffentlichkeit mit Argumenten, Leidenschaft und Humor all das zu verteidigen, was jeden Faschisten erzürnt. … Nun wurde sie brutal an einem öffentlichen Ort für ihre politischen Ideen ermordet. Der Mörder, ein Neonazi, wollte ihr den Mund verschließen, weil er ihr Image, ihre Worte, ihre Ideen nicht ertragen konnte. Er wollte sie töten, damit sie politisch nicht mehr existiert. Cox ist die erste Tote der Idee des vereinigten Europas. Eine mutige Frau, die es wagte, wenig beliebte Ideen zu verteidigen, weil sie an diese geglaubt und sie auch konsequent in ihrem eigenen Leben angewandt hat.“
Brexit-Gegner missbrauchen Mord an Cox
Einige EU-Befürworter nutzen den Mord an Jo Cox, um gegen den Brexit Stimmung zu machen, klagt die Daily Mail:
„Man sollte erwarten, dass vernünftige Leute sich einig darin sind, dass diese geistesgestörte Tat keinen Einfluss auf die Entscheidung am Donnerstag haben darf. ... Und dennoch hat dies ekelhafterweise einige der Bremain-Befürworter nicht daran gehindert, aus dem Vorfall politisch Kapital zu schlagen und zu unterstellen, dass die Brexit-Anhänger für diesen verantwortlich sind. ... Könnte man nicht genauso argumentieren (und dabei genauso grotesk falschliegen) dass die liberale Linke das Blut von Jo Cox an den Händen trägt, nachdem sie jahrzehntelang den Frust der Öffentlichkeit geschürt hat, indem sie eine Debatte über Einwanderung unterdrückt hat? Eine Tatsache, die hässliche rechts- und linksextreme Gruppen in ganz Europa hat entstehen lassen.“
Bei Terror wird mit zweierlei Maß gemessen
Attentäter mit politischen Motiven, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, werden meist lediglich als Verrückte abgestempelt, kritisiert The Malta Independent:
„Europa ringt derzeit mit der zunehmenden Bedrohung durch Terrorismus im Zusammenhang mit dem Eindringen ausländischer Terroristen. Da kann man leicht die Realität aus den Augen verlieren. Der Mann, der Cox ermordete, war ebenfalls ein Terrorist. Allzu oft, wenn eine weiße Person ein Verbrechen verübt, wird diese umgehend als 'verrückt' und 'geisteskrank' abgestempelt. Das mag diesmal der Fall sein, doch wenn jemand Vorstellungen über die Vorherrschaft der weißen Rasse verkündet und eine liberale Abgeordnete niederschießt, die sich für Zuwanderung stark machte, dann ist das ebenfalls Terrorismus.“
Die Tragödie ändert womöglich alles
Dass der Mordanschlag auf die proeuropäische Labour-Politikerin den Sieg der Brexit-Befürworter zunichtemachen könnte, hält Právo für denkbar:
„Bis zum gestrigen Donnerstag waren die Gegner der Union in Großbritannien obenauf. Die Umfragen sagten ihnen für das Referendum kommende Woche einen klaren Sieg voraus. Doch der tragische Tod der proeuropäischen Abgeordneten Jo Cox könnte alles ändern. ... Zeugen zufolge rief der Angreifer 'Britain first'. ... Brachte der Mörder damit seine Abscheu gegenüber der EU zum Ausdruck? Wenn ja, dann haben die Anhänger des Brexit ein großes Problem. Sie müssen sich dem Vorwurf stellen, dass ihre Politik die Wähler radikalisiert und letztlich zu einem Mord geführt hat. ... Womöglich finden sie keinerlei Möglichkeit, sich gegen diese Beschuldigung zu wehren. Die Umfragen, die ihnen den Sieg verhießen, könnten so zur Makulatur werden.“
Ein Moment des Innehaltens
Dass das Attentat dazu beiträgt, die starke Polarisierung in Großbritannien zu überwinden, hofft die Zeitung Público:
„Die britische Gesellschaft ist zersplittert. Auch bei den beiden großen Parteien sind die Brüche offensichtlich, vor allem bei den Konservativen, wo fast die halbe Regierung gegen ihren eigenen politischen Führer handelt. ... Zu einer Zeit, da die Umfragen einheitlich einen Trend zugunsten des Brexit offenbaren, geschieht nun diese Tragödie. Als Reaktion darauf haben beide Seiten ihre Auseinandersetzungen zumindest für den Moment beendet. Extreme Ereignisse wie dieses haben in der Politik normalerweise Folgen. Erleben wir in dieser Kampagne doch noch einen Wendepunkt?“
Tun wir uns zusammen gegen den Hass
Großbritannien muss sich nach der Ermordung von Jo Cox umso stärker für ein europäisches Miteinander einsetzen, mahnt der liberale Kurier:
„Churchill glaubte noch an das britische Empire und sah den Commonwealth als eigenen Machtblock, aber das war nur mehr Illusion. Das erkannte schon Premierminister Harold Macmillan, der 1961 zur EWG wollte. Nach langem Widerstand De Gaulles klappte der britische Beitritt erst 1973. Eigenbrötlerei und Thatchers heftiges Schwingen ihrer Handtasche - 'I want my money back' - bestimmten das Europabewusstsein der Briten ebenso wie das Zusammenwachsen der Insel mit dem Kontinent. Der Eurotunnel ist nur ein Symbol dafür. Die Briten profitierten von der EU ebenso wie die Europäer, aber wenn sie austreten, werden sie einsam sein und das wirtschaftlich stärker spüren als die EU-Mitglieder. Tun wir uns zusammen gegen den Hass, der die Abgeordnete getötet hat - vielleicht hilft dieser Appell des Ehemannes von Jo Cox.“
Politik nicht hinter Sicherheitsglas verbannen
Der Mord an Cox darf nicht dazu führen, dass Volksvertreter vor ihren Wählern abgeschirmt werden, warnt The Daily Telegraph:
„Ein wichtiger Faktor für das Funktionieren unserer Demokratie ist die Bereitschaft der Volksvertreter, ihre Wähler in der Öffentlichkeit zu treffen. Würde man die Demokratie hinter dickes Sicherheitsglas verlegen, würde diese verkümmern und verarmen. Nein, stattdessen finden Politikersprechstunden in der Öffentlichkeit statt, etwa in Bibliotheken und Gemeindezentren. Als die Königin am vergangenen Wochenende [anlässlich der Feiern zu ihrem 90. Geburtstag] in einem offenen Auto über die [Londoner Prachtstraße] The Mall gefahren wurde, erinnerte uns dies daran, was eines der Markenzeichen einer freien und friedlichen Gesellschaft ist: Dass Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens keine Angst vor ihrem Volk haben müssen. Hoffentlich wird das trotz dieser Tragödie so bleiben.“