Wie der Brexit Großbritannien verändert
Müssen EU-Migranten jetzt die Insel verlassen? Bricht das Vereinigte Königreich wirtschaftlich zusammen? Und wie wirkt sich der Brexit auf die transatlantischen Beziehungen aus? Nach dem Votum der britischen Bürger haben Europas Kommentatoren viele Fragen zu klären.
Brexit bedeutet Ende des Vereinigten Königreichs
Wenn das britische Parlament den EU-Austritt durchsetzt, ist das Vereinigte Königreich in seiner Existenz bedroht, argumentiert der Rechtswissenschaftler Jo Murkens auf dem Blog EUROPP der London School of Economics:
„Das Vereinigte Königreich ist eine Familie aus mehreren Nationen: Zwei Länder haben für den Austritt gestimmt, zwei Länder für den Verbleib. Es gibt daher ein Gegenargument zur dominierenden Darstellungsweise, dass eine Mehrheit des Volks für den Austritt sei. ... Dass Westminster sein konstitutionelles Recht durchsetzen will, Schottland und Nordirland mit aus der EU zu nehmen, ignoriert die Tatsache, dass Westminster politisch nicht mehr in der Lage ist, dieses Recht zu implementieren. Je mehr Westminster seine Stärke einsetzt, desto mehr wird es an Autorität verlieren. Die Einheit des Landes kann nur durch das Bauen von Brücken erhalten bleiben, nicht indem man die Brücken über dem Ärmelkanal abbricht.“
Bürger bevorzugen Gefühl der Freiheit
Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer EU-Mitgliedschaft zählen nicht nur wirtschaftliche Faktoren, erklärt der Ökonom David McWilliams auf seinem Blog:
„Eigenständigkeit, Nationalismus und Unabhängigkeit sind vielen Menschen wichtig. Im Kern ihrer nationalen Psyche schätzen Norweger, Schweizer und Isländer - letztere zogen vor einem Jahr ihren EU-Beitrittsantrag zurück - ihre Eigenständigkeit sowie das Recht, ihre eigenen Gesetze zu machen und ihr Land selbst zu regieren. Dafür sind sie bereit einen Preis zu zahlen. Sie wissen, dass die Globalisierung den Handlungsspielraum einzelner Staaten immer kleiner macht, doch das Gefühl der Unabhängigkeit ist ihnen wichtiger. Ich gebrauche hier bewusst das Wort 'Gefühl', denn Unabhängigkeit ist ein Gefühl. ... Das sind starke Emotionen, die für die Menschen offensichtlich mehr zählen als Pfund, Schilling und Penny.“
Schottland erschwert britischen EU-Austritt
Schottlands Autonomiestatus wird den Briten bei der Umsetzung des Brexit-Ergebnisses enorme Probleme bereiten, warnt der Jurist Santiago Muñoz Machado in El Mundo:
„Schottlands politische Position ist so stark, dass es vor knapp zwei Jahren sogar ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten hat. Kann ein Land gegen den Willen einer innerstaatlichen Einheit mit eigenem Autonomiestatus die EU verlassen? ... Schottland könnte, trotz eines EU-Austritts des Vereinigten Königreiches, in allen Belangen, für die es Kompetenzen hat, weiterhin EU-Recht anstatt englischen Rechts anwenden. Schottlands Zwangsaustritt brächte eine enorme Veränderung seines Rechtsstatus. Diese Situation wird entweder ein neues schottisches Unabhängigkeitreferendum ins Gespräch bringen oder zum Versuch führen, die Ergebnisse des Brexit-Plebiszits zu korrigieren, indem man ein neues abhält oder die Folgen des jetzigen derart abschwächt, dass alles mehr oder weniger beim Alten bleibt. “
Neuwahl könnte Brexit verhindern
Falls es nach einer möglichen Neuwahl zu einer veränderten politischen Konstellation käme, stünde der Brexit auf der Kippe, meint der Publizist Marián Leško in der ungarischsprachigen Tageszeitung Új Szó:
„Die Briten spüren nun am eigenen Leib, dass sie über etwas abgestimmt haben, von dessen Tragweite sie keinen blanken Schimmer hatten. Der Grund: Die primitiven EU-feindlichen Mythos-Beschwörer haben es sträflich unterlassen, sie über die möglichen Folgen eines Brexit aufzuklären. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Tories aufgrund der großen Spannungen innerhalb der Partei in Neuwahlen flüchten. Sollten diese von Labour und der Schottischen Nationalpartei gewonnen werden, wäre das 'Brexit-Programm' der Konservativen praktisch hinfällig, haben doch die Wähler dieser beiden Parteien für den Verbleib in der EU gestimmt. Es könnten also noch einige Überraschungen auf uns warten.“
Nie liebten die Briten Europa mehr als jetzt
Leider erst jetzt, nach dem Brexit-Referendum, beginnen viele Briten das europäische Einigungsprojekt in einem positiven Licht zu sehen, klagt The Guardian:
„Es ist faszinierend festzustellen, dass Großbritannien in nur wenigen Tagen zu einem Land geworden ist, in dem nun so viele Menschen bereit sind, positiv und leidenschaftlich über die EU-Mitgliedschaft zu sprechen. ... Eine neue positive Stimmungslage könnte sich etabliert haben, in der die EU für Engagement, Werte und Solidarität steht und nicht als Sündenbock herhalten muss oder als technokratisches Gebilde karikiert wird. Wenn man aus dem Trümmerhaufen dieses Referendums etwas Positives ableiten kann, dann dass dies die Geburtsstunde einer dauerhaften, positiven Europakultur in Großbritannien sein könnte. So etwas hat es zuvor nicht gegeben. Wenn es doch nur früher passiert wäre.“
Rassistische Übergriffe schnell unterbinden
Laut britischer Polizei hat es nach dem Brexit-Referendum verstärkt Hasskriminalität gegenüber Migranten gegeben. Cyprus Mail hofft, dass die Ausländerfeinde schnell gestoppt werden:
„Offensichtlich stellen sie nicht die Mehrheit der britischen Bevölkerung dar, die in einem der kulturell vielfältigsten Länder der Welt lebt und entsetzt darüber ist, was gerade passiert. Die einzige Hoffnung ist, dass die Polizei dies mit einem Null-Toleranz-Ansatz und harten Strafen ersticken kann. ... Vielleicht geht das alles vorbei, wenn die Hitze des Brexit-Siegs abgeklungen ist. Wenn diejenigen, die die 'Ausländer raus' haben wollen, erkennen, dass sich hinsichtlich der Einwanderung innerhalb der kommenden zwei Jahre nichts ändern wird. Dass sie fälschlicherweise in den Glauben versetzt wurden, dass der Brexit aus Großbritannien über Nacht - oder jemals - in ein 'rein weißes' Land verwandeln würde.“
Wichtiger Partner der USA verliert an Gewicht
Der Brexit schwächt den wichtigsten Partner der USA und macht deren globale Anliegen damit schwerer umsetzbar, fürchtet die New York Times:
„Kein Land teilt Washingtons Weltsicht so sehr wie Großbritannien. Es ist seit langem der willigste Verbündete in Sachen Sicherheit, der effektivste Partner für die Geheimdienste und der größte Enthusiast des Freihandelmantras, das für Amerikas internationalen Ansatz eine Schlüsselrolle spielte. ... Selbst wenn Großbritannien seinen Einfluss auf dem Kontinent zurückgewinnen kann - was fraglich bleibt - wird es über Jahre abgelenkt sein. Der Verlust von Großbritanniens starker Stimme in Europa kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Gerade wenn die USA und seine Verbündeten diskutieren, wie man mit einem revanchistischen Russland umgeht, die Nato wiederbelebt, ein sich dahinschleppendes amerikanisch-europäisches Handelsabkommen vorantreibt und an einer diplomatischen Lösung für Syrien arbeitet, die eine Entlastung für die Flüchtlingskrise in Europa sein könnte.“
Arbeitsmigranten brauchen keine Angst haben
Unter Arbeitnehmern aus osteuropäischen EU-Ländern in Großbritannien geht dieser Tage die Angst um, dass sie mit dem Brexit ihre Jobs verlieren könnten. Die ungarische Népszabadság gibt diesbezüglich jedoch Entwarnung:
„Als Ausgangspunkt gilt, dass die Magyaren ebenso wie andere Osteuropäer vor allem wegen der Arbeit in Großbritannien sind. Da sie legal arbeiten, zahlen sie auch Steuern und Abgaben. Mithin ist es ein Irrglaube, dass sie das britische Sozialsystem belasten. Egal, wie groß die Feindseligkeit gegenüber Einwanderern im Vereinigten Königreich auch ist, diejenigen, die dort arbeiten, werden sicher nicht abgeschoben, nur weil sie Ungarn, Polen, Rumänen oder Bulgaren sind. Die ausländischen Arbeitskräfte in Großbritannien sind diesbezüglich also nicht in Gefahr. ... Was außerdem beruhigt: Viele britische Firmen, Lokalverwaltungen und Universitäten haben nach der Abstimmung signalisiert, dass sie alles unternehmen werden, um die Gastarbeiter im Land zu halten.“
Großbritannien wird kein neues Norwegen
In den letzten Tagen haben finnische Politiker die Hoffnung geäußert, dass Großbritannien denselben Status bekommen könnte, wie das EWR-Land Norwegen. Die Wirtschaftszeitung Kauppalehti hält dies für ausgeschlossen:
„Leider wird Großbritannien kein neues Norwegen, auch wenn die Finnen sich dies wünschen. Die Briten wollen alle Vorteile des EU-Binnenmarktes, aber keine Verpflichtungen. Als EWR-Mitglieder müssten sie einen großen Teil der EU-Gesetzgebung schlucken, ohne diese selbst beeinflussen zu können. Die Briten würden weiterhin zum EU-Haushalt beitragen müssen, was seit der Zeit, als Margaret Thatcher ihre Handtasche geschwungen hat, stets Grund zur Klage war. Als EWR-Mitglied würde in Großbritannien auch weiterhin die Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten. Die Einwanderung war aber einer der wichtigsten Gründe, warum die Briten für den Brexit gestimmt haben. Es wäre sehr seltsam, wenn nach dem Votum der Wille des Volkes vollständig vergessen würde.“
Briten wollen die EU zerstören
Hinter dem Brexit-Referendum steckt in Wahrheit ein teuflischer Plan Großbritanniens, mit dem es sich wieder mehr globalen Einfluss sichern will, mutmaßt Jutarnji list:
„Der Austritt Großbritanniens ist ein strategischer Schritt, um den Zerfallsprozess der EU zu beschleunigen. Gleichzeitig plant Britannien sich als Führer einer neuen politisch-gesellschaftlichen Initiative zu positionieren, die nach dem Zusammenbruch der EU entstehen soll. Einfach gesagt: es ist vollkommen klar, dass Großbritannien keine Chance hat, sich eigenständig als strategischer Führer auf dem Kontinent zu etablieren, so lange die Union funktional, homogen und erfolgreich ist. Von daher ist es vollkommen logisch, dass Großbritannien während der zweijährigen Austrittsphase mit allen legitimen Mitteln versuchen wird, weitere desintegrative Prozesse in der EU in Gang zu setzen. Der Brexit ist nichts anderes, als eine Wette auf den baldigen Zusammenbruch der EU.“
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