EU-Beitrittsverhandlungen mit Türkei stoppen?
Angesichts der Reaktionen Erdoğans auf den Putschversuch hat Österreichs Kanzler Kern gefordert, die Beitrittsgespräche mit der Türkei abzubrechen. Das wäre genau kontraproduktiv, warnen einige Kommentatoren. Andere bedauern, dass die EU nicht über ernsthafte Sanktionen gegen Ankara nachdenkt.
Erdoğan braucht ein Korrektiv
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei müssen intensiviert statt abgebrochen werden, fordert tagesschau.de:
„Niemand in der EU sollte ein Interesse daran haben, dass die Türkei politisch und gesellschaftlich in Richtung Naher Osten abdriftet. Das Ziel der EU muss eine stabile und demokratische Türkei sein. Ob Präsident Erdogan dafür der richtige Mann ist, darf aus westlicher Sicht bezweifelt werden. Aber der 62-Jährige ist das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt, dessen Akzeptanz und Rückhalt in der Bevölkerung momentan höher denn je ist. … Präsident Erdogan braucht in seinem massiven Streben nach Macht ein Korrektiv. In der Türkei gibt es das kaum noch. Die Medien sind weitgehend auf Erdogan-Linie getrimmt, die Opposition heult mit den Wölfen oder ist stigmatisiert. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen würde den Gang in ein autokratisches System alla turca beschleunigen.“
Markige Worte und nichts dahinter
Nicht entschieden genug reagiert die EU nach Meinung der Zeitung Právo auf die politischen Entwicklungen in Ankara:
„Bislang wird diplomatisch Poker gespielt. Schnelle Entscheidungen werden von der gegenseitigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Abhängigkeit gebremst. Hinter der Fassade starker Worte an die Adresse Ankaras passiert in der Praxis nichts. Es gibt keine Überlegungen über Sanktionen oder Embargos. Nicht einmal politische Resolutionen gegen die Verletzung der Menschenrechte, wie wir sie gegenüber anderen Ländern kennen. Hier misst die EU mit zweierlei Maß. ... Aber sie sitzt auch ein bisschen in der Falle. Eine Scheidung von der Türkei würde das Flüchtlingsabkommen versenken. Das hätte fatale sicherheitspolitische Folgen.“
Gefährlicher Bruch zwischen Brüssel und Ankara
Ein Zerwürfnis mit der Türkei hätte schwerwiegende geopolitische Folgen, fürchtet der Journalist Cristian Unteanu auf seinem Blog bei Adevărul mit Blick auf die Aussagen von Kern:
„Es könnte erstens dazu führen, dass die Türkei das 'Bremspedal' löst, was die drei Millionen Flüchtlinge betrifft, die sich auf ihrem Territorium befinden. Hinzu kommen geschätzt eine Million Menschen, die auf Einlass warten und an der syrisch-türkischen Grenze nicht weiterkommen. Ein Alptraum. ... Eine zweite Folge könnte die schnelle Umorientierung der außenpolitischen Positionen der Türkei sein, für die es verlockend sein könnte, ihren Status als Partner der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit weiter zu festigen und auszubauen. Im Fall eines Bruchs zwischen Ankara und Brüssel, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Organisation die Türkei schnell als vollwertiges Mitglied willkommen heißt. … Das würde die geopolitische Situation unserer Region radikal verändern - langfristig und in allen Bereichen.“
Wiener Rebellen begehen erneut Tabubruch
Kerns Forderung nach einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist ein Tabubruch, stellt Mladá fronta dnes heraus:
„Der österreichische Vorschlag ist die bislang härteste Reaktion aus dem Mund eines europäischen Politikers auf die Säuberungen, zu denen der türkische Präsident Erdoğan seit dem gescheiterten Putsch gegriffen hat. Es ist aber auch eine Antwort auf das Ultimatum von Erdoğans Außenminister, wonach der Flüchtlingsdeal hinfällig werde, falls es bis Ende Oktober keine Visafreiheit für die Türkei gebe - ohne Rücksicht darauf, ob Ankara die Bedingungen dafür erfüllt oder nicht. ... Österreich hat in der Flüchtlingsfrage schon einmal ein europäisches Tabu gebrochen, als Außenminister Kurz das australische Modell im Umgang mit den Flüchtlingen empfahl. Von Österreich erwartet man derlei eigentlich nicht, eher von den Visegrád-Ländern. Aber Österreich ist, anders als diese, ein Zielland. Und die Türken standen schon mehrfach vor Wien.“
Zu Ruhe und Rechtsstaatlichkeit zurückfinden
Gerade jetzt braucht die Türkei Europa mehr denn je, betont die Süddeutsche Zeitung:
„Das könnte tatsächlich der Anfang vom Ende eines historischen, einst hochambitionierten Annäherungsversuchs sein. Denn wenn es derzeit ein europäisches Grundgefühl gibt, dann dieses: Die Türkei gehört nicht zur EU, sie ist zu autoritär regiert, zu zerrissen, zu unberechenbar. ... Es ist ein Trauerspiel. Denn eigentlich bräuchte die Türkei gerade jetzt Hilfe aus Europa. All die Prozesse gegen angebliche und echte Putschisten müssten von europäischen Beobachtern verfolgt werden. Europäische Menschenrechtsorganisationen müssten Zugang zu Haftanstalten und Polizeikellern verlangen. Nur wenn ein klares Bild entsteht, was in der Putschnacht am 15. Juli und seither in der Türkei vorgefallen ist, wird das Land irgendwann wieder zu Ruhe und Rechtsstaatlichkeit zurückfinden.“
Türkei sollte sich von EU distanzieren
Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch ist klar, dass die Türkei keine weiteren Verhandlungen mit der EU führen darf, findet die regierungstreue Yeni Şafak:
„Gibt es in der türkischen Öffentlichkeit überhaupt noch jemanden, der die EU unterstützt? ... Die EU ist für die Türkei kein gemeinsames Ziel mehr, sondern eine Quelle der Bedrohung. Eine Bedrohung von außen, die versucht, die Türkei in ein Ägypten zu verwandeln. Europa, das nicht einmal mehr seine interne Integrität schützen kann, hat in der Zeit seit dem 15. Juli eine beschämende Position eingenommen und sich bemüht, die Türkei zu destabilisieren, ja gar aufzulösen. ... Mittlerweile gibt es zwischen der EU und der Türkei keine gemeinsamen Werte mehr, das Vertrauensverhältnis ist zerrüttet. Wer sich die Feindseligkeit in Deutschland und Österreich gegenüber der Türkei ansieht, erkennt klar, dass es keine gemeinsame Zukunft geben kann.“