Belgien verhindert Ceta vorerst
Das Freihandelsabkommen Ceta zwischen der EU und Kanada steht weiter auf der Kippe. Die für diese Woche geplante Unterzeichnung des Handelspakt droht am Widerstand der Wallonen zu scheitern, die einzelne Punkte des Abkommens kritisieren. Verspielen die Wallonen eine große Chance für die EU oder sind sie die Stimme der europäischen Bürger?
Von so viel Demokratie kann Kanada nur träumen
Kanadische Wissenschaftler loben das wallonische Parlament in einem bei Mediapart erschienen offenen Brief für die Haltung gegenüber Ceta und fordern es auf, standhaft zu bleiben:
„Wir hätten uns gewünscht, dass die Kanadier im Rahmen einer Abstimmung im kanadischen Abgeordnetenhaus und in den Provinzparlamenten eine ähnliche Debatte geführt hätten, aber dies war weder unter der Regierung Harper noch unter der von Trudeau der Fall. Im Gegensatz zu den wenig diplomatischen Äußerungen einiger kanadischer Politiker und Unternehmensvertreter scheint es uns, als sei in Belgien Demokratie ausgeübt worden, um den Parlamentariern eine Abstimmung über quasi-konstitutionelle Strukturen zu ermöglichen. … Welche Entscheidungen auch immer Sie treffen werden, bitte erliegen Sie nicht den gleichen Taktiken wie denen, die verwendet wurden, um die Kanadier zu manipulieren.“
Widerstand der Wallonen spricht für Europa
Dass eine verhältnismäßig kleine Region wie die Wallonie ein so wichtiges Freihandelsabkommen wie Ceta stoppen kann, spricht eher für die EU, meint der Kolumnist Vesselin Jelev im Nachrichtenportal Club Z:
„Das Verhalten der Wallonen widerspricht deutlich den Kritikern, die gern die Europäische Union mit der ehemaligen Sowjetunion vergleichen. Ich habe zu Zeiten der Sowjetunion gelebt und ich kann mich nicht entsinnen, dass sie jemals den kleinen, andersdenkenden und ungehorsamen Völkern Beachtung schenkte. Da rollten eher die Panzer. … Wie sagte der Nachahmer dieser sowjetischen Tradition, Wladimir Putin, so schön: 'Der russische Bär fragt niemanden um Erlaubnis.' Europa fragt um Erlaubnis. Das lässt sie vielleicht langsam, uneffektiv, schwach und zuweilen sogar lächerlich aussehen. Trotzdem wollen alle in Europa leben und nicht in Russland, China oder der Türkei, wo politische Entscheidungen wesentlich effizienter getroffen und ausgeführt werden.“
Schlechte Zeiten für weitere EU-Integration
Eine Vertiefung der Union könnte die derzeitige Lähmung Europas beenden, doch dafür fehlt der EU der Rückhalt in der Bevölkerung, klagt Der Standard mit Blick auf das Ceta-Debakel:
„Um es deutlich zu sagen: In der aktuellen Situation sollte die Union eher Ballast abwerfen, um nicht abzustürzen. Sich neue Lasten aufzubürden, dafür fehlt dieser EU schlicht die Kraft. Gefragt ist jetzt weniger Einmischung und keine Ausweitung der EU-Kompetenzen. Im Kern sollte es darum gehen, die Pfeiler des Binnenmarktes einigermaßen unbeschadet zu erhalten. Sonst droht das ganze Haus zusammenzubrechen. Alles andere wäre eine Steilvorlage für rechte wie linke Populisten, die erfolgreich jede echte oder vermeintliche Fehlentwicklung der EU unterjubeln. Europa hätte eine tiefere Integration bitter notwendig, doch dafür fehlt der Rückhalt in der Bevölkerung. Über das Knie brechen lässt sich Europa schlicht und ergreifend nicht.“
Die EU muss beschlussfähig bleiben
Zwar sind demokratische Entscheidungen für die EU und ihr Ansehen grundsätzlich positiv, betont Dagens Nyheter, sieht als Kehrseite der Medaille allerdings die Gefahr der Handlungsunfähigkeit:
„Wallonien, mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern, blockiert nun ein Abkommen, das an die 550 Millionen Menschen betrifft. Dass Parlamentsmitglieder dieser Region direkt mit Kanadas Regierung verhandeln, ist unangemessen. Außenhandel gehört zu den Kerngebieten der EU, die Union muss beschlussfähig sein. Der EU-Kommissionsvorsitzende Jean-Claude Juncker warnte am Freitag, die EU könne all ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn das Abkommen nicht zustande käme. Das klingt einleuchtend. Nicht zuletzt ist die Ceta-Blockade ein schlechtes Vorzeichen für die Verhandlungen über Großbritanniens Austritt. Ein schneller Deal wird für Premierministerin Theresa May und für die Briten lebenswichtig sein. Da kann es regionalen Saboteuren nicht gestattet werden, einen ganzen Wirtschaftsraum in Geiselhaft zu nehmen.“
Den Kuchen gerechter verteilen
Um die Menschen von den Vorzügen der Globalisierung zu überzeugen, müssen die Erträge aus dem weltweiten Handel gerechter verteilt werden, fordert Kauppalehti:
„Die EU kann die Kompetenz für die Handelspolitik nicht an die Mitgliedstaaten zurückgeben, denn es ist die zentrale Aufgabe der EU, aus Europa einen großen Wirtschaftsblock zu machen, der mit den USA, Indien und Asien und insbesondere dem aufstrebenden China konkurrieren kann. Zur Erreichung dieses Ziels ist eine gemeinsame Handelspolitik ein grundlegendes Mittel. Der Widerstand gegen Ceta und TTIP spiegelt einen allgemeinen Wandel der politischen Stimmung in der Bevölkerung wider, die darauf aus ist, dem internationalen Kapitalismus eine Lehre zu erteilen. Die Menschen haben das Gefühl, dass der durch den Handel größer gewordene Kuchen zwischen den Kapitaleignern und den Erzeugern des Mehrwerts, also den Mitarbeitern, ungerecht verteilt wird. Die Politik muss sich um eine gerechtere Aufteilung des Kuchens kümmern.“
Walloniens Nein muss gehört werden
Die Haltung des wallonischen Parlaments entspricht der vieler europäischer und auch kanadischer Bürger, betont Le Vif/L'Express und warnt davor, Ceta mit Macht durchzudrücken:
„Wie auch beim Brexit auf beachtliche Weise deutlich geworden ist, schienen die europäischen Institutionen noch nie so weit von den Bürgern entfernt wie heute. Von den Bürgern, von denen ein immer größerer Teil von einer anderen Demokratie träumt, die nicht nur von den und für die Eliten gemacht wird. Von den Bürgern, die von dem Freihandelsabkommen, wie es mit Kanada unterzeichnet werden sollte, ganz und gar nicht überzeugt zu sein scheinen. Von den Bürgern, die sich von den Politikern verachtet fühlen. ... Auch in Quebec und in anderen europäischen Ländern gibt es viele Gegner des Abkommens. Ihnen ist es nicht gelungen, sich bei den Politikern Gehör zu verschaffen. In Wallonien haben sie es geschafft. Mit seinem Versuch, diesen Ausdruck von Demokratie zu diskreditieren, begeht Europa einen gefährlichen Fehler.“
Ceta dient der Allgemeinheit
Ein Scheitern von Ceta würde dem Gemeinwohl widersprechen, warnt De Volkskrant:
„Wenn Ceta scheitert, dann ist das ein großer Sieg für die Kräfte gegen die Globalisierung, gegen die EU und gegen den Kapitalismus. Der moderne Kapitalismus braucht eine bessere Umverteilung. Aber wer den Prozess selbst kaputt macht, sorgt dafür, dass bald nichts mehr zu verteilen ist. Eine internationale Ordnung, die von China und Russland untergraben und herausgefordert wird, wird zugleich von innen von einer Monster-Koalition von linken und rechten Wutbürgern ausgehöhlt. ... Alternative Stimmen müssen gehört und Politiker dürfen ruhig gezwungen werden, ihre Entscheidungen zu verteidigen. ... Aber die Politik muss dafür sorgen, dass das Interesse der Allgemeinheit siegt gegen die (oft gut organisierten) Einzelinteressen.“
Mit wem, wenn nicht mit Kanada?
Fassungslos über das mögliche Scheitern von Ceta nach sieben Verhandlungsjahren zeigt sich Hospodářské noviny:
„Nach dem Brexit-Entscheid wollte die EU zeigen, dass auch 27 Länder voran kommen können. Aber der beschämende Streit um Ceta zeigt, dass sie sich nicht einmal über die Liberalisierung des Handels mit Kanada einigen können. Die Wallonen und ein paar andere Querulanten stellen alles auf den Kopf. Aber es geht nicht nur um die wallonischen Bauern, die genetisch modifizierte kanadische Produkte fürchten. Es geht um den gesamteuropäischen Protest derer, die den Eindruck haben, dass der Zug der Globalisierung abgefahren ist, und die nicht auf ihre bisherige Welt verzichten wollen, selbst wenn die von sich aus zusammenbricht. Mit wem sonst werden wir weitere Handelsabkommen in der globalisierten Welt zustande bringen, wenn wir uns nicht einmal mit dem uns kulturell nah liegenden Kanada einigen können?“
Globalisierung gestalten statt blockieren
Enttäuscht zeigt sich auch die Neue Zürcher Zeitung, die erklärt, dass der Vertrag ganz im Sinne der EU ausgehandelt wurde:
„[Kanada hat] Hand geboten zur EU-Idee eines Investitionsgerichts für Konflikte zwischen ausländischen Investoren und dem Gaststaat. Dieses überwindet Schwächen der bisher üblichen privaten Schiedsgerichte. All dies ist meilenweit entfernt vom Zerrbild der Gegner, die Ceta als Diktatur der Konzerne beschreiben, die den Rechtsstaat und die Demokratie ausheble. Wer die Globalisierung nicht aufhalten kann, aber gestalten will, braucht genau solche Abkommen, solange es keine multilateralen Fortschritte bei der Welthandelsorganisation mehr gibt. Wer Ceta hingegen ablehnt, muss sich fragen, ob er eigentlich gegen jede Handelsliberalisierung ist und damit das Geschäft der Wirtschaftsnationalisten betreiben will. Er muss dann aber auch negative Folgen auf Wachstum und Beschäftigung zu tragen bereit sein.“
Populistische Wallonen machen alles kaputt
Jyllands-Posten fürchtet, dass Europa eine wichtige Chance verspielt:
„In einer Zeit, in der sich wichtige Kräfte - darunter die beiden Präsidentschaftskandidaten in den USA - Richtung Protektionismus bewegen, in der der Welthandel stagniert und das globale Wirtschaftswachstum und der Arbeitsmarkt als Folge davon leiden, sind Freihandelsabkommen wichtiger denn je. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat der Freihandel viele hundert Millionen Menschen aus der Armut geholt, indem er ökonomisches Wachstum und Beschäftigung geschaffen hat. Es wäre unerträglich, wenn eine Handvoll populistischer Wallonen ein solch weitreichendes Freihandelsabkommen, von dem die große Mehrheit der wahren Europäer profitieren würde, zerstören könnte.“
Ceta trifft Kern der Europa-Debatte
Gegen Kritik an den Wallonen verwehrt sich De Morgen:
„Was fällt denen ein?, tönt es in Europa. Den gleichen Aufschrei hörte man nach dem Ukraine-Referendum in den Niederlanden oder nach dem Brexit-Votum. ... Offenbar wird die Volksvertretung als eine Bedrohung der Demokratie empfunden. ... Der Streit um Ceta trifft den Kern der Debatte über die europäische Demokratie. Darf ein Mitgliedsland - oder Teilstaat- noch nein sagen, wenn 'Europa' bereits ja gesagt hat? ... Ob die Twitter-Ökonomen es nun schön finden oder nicht: Solche 'klassischen' Verträge werden von einem wachsenden Teil der europäischen Bevölkerung nicht mehr unterstützt. Der Widerstand gegen Mega-Verträge reicht von euroskeptischen Rechtspopulisten bis hin zu Rot-Grün. ...Entweder wird man weiterhin legitime Kritik unterdrücken, oder das europäische Projekt wird irgendwann wirklich an der Wahlurne platzen - so wie es in England bereits geschehen ist.“