Spaltet der Terror die Türkei?
Nach dem Anschlag in einem Istanbuler Nachtclub sehen viele die pluralistische Gesellschaft in der Türkei weiter unter Druck geraten. Erdoğan warnte in einer Rede vor einer Spaltung des Landes und sicherte allen Bürgern ihre persönliche Freiheit zu. Im Netz wurden indes gehässige Kommentare veröffentlicht, die die Opfer des Anschlags für ihren Lebensstil kritisieren. Nachdenklich mahnen Kommentatoren, die Gräben in der Türkei nicht weiter aufbrechen zu lassen.
Die Gesellschaft bleibt vielfältig und mutig
Die Welt ist es der traumatisierten Türkei schuldig, nicht die Zivilgesellschaft zu übersehen, erkärt der Guardian:
„Beim Blick auf ein Land, das fest im Griff einer autoritären Herrschaft ist, fällt es leicht, nur den Despoten zu sehen und nicht die Millionen Bürger, die in ihrer Vielfalt und mit ihren Sehnsüchten das Land bevölkern. Ein Mann zieht die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, weil er so viel unter Kontrolle hat - und tatsächlich ist seine Macht unerbittlich. Aber ein Weg, Solidarität für ein Land auszudrücken, das seine Toten betrauert, ist es, die lebhafte Zivilgesellschaft in der Türkei nicht zu vergessen. Trotz Druck gegen sie strebt sie weiter nach Demokratie, Offenheit und Toleranz, nicht nach Hass und Spaltung. Sie zeigt dabei viel Mut. Das Ausmaß der multiplen Traumata des Landes lassen diesen Geist des Widerstands noch bewundernswerter erscheinen.“
Im Kampf gegen den Terror zusammenstehen
Die Türkei kämpft an allen Fronten gegen den Terror und man sollte sich davor hüten, mit verschiedenen Lebensstilen Politik zu betreiben, findet die regierungstreue Sabah:
„Nun ist die IS-Terrormiliz an der Reihe. Die Belagerung al-Babs [in Syrien durch das türkische Militär] dauert an. Wir wissen, dass man der Türkei dort jede Art von Hindernissen in den Weg legt, damit sie keinen Erfolg hat. ... In dieser Region, deren Zentrum die Türkei bildet, wird ein komplexes Spiel gespielt. Dessen Initiatoren und Teilnehmer wissen, dass sie die Türkei mit Bomben und Morden nicht einnehmen können. Deswegen wird in diesem gefährlichen Spiel immer wieder der Konflikt zwischen Kurden und Türken, Aleviten und Sunniten, Laizisten und Konservativen geschürt. ... Wenn nun Laizisten oder Religiöse den Lebensstil des anderen bekämpfen und damit Politik betreiben, schaden sie damit diesem Land mehr als der Terror. An diesem Punkt liegt die Hauptverantwortung bei der Politik und jeder sollte genau überlegen, was er sagt.“
Schwarzes Loch ohne demokratische Ideale
Die Türkei ist in einem Teufelskreis aus Instabilität und Angst gefangen, beobachtet Nazli Mukadder Bhatia, die seit 2008 in Portugal lebt und an der Católica Lisbon School of Business and Economics unterrichtet. Sie schreibt in Observador:
„Ich werde oft gefragt, was gerade mit meinem einst so viel gelobten und verheißenden Land passiert. … Die Destabilisierung der Region hatte auf kein anderes Land eine solch tiefgreifende Auswirkung, wie auf die Türkei. ... Aber warum? Nun, meines Erachtens hat das hauptsächlich mit der inneren Dynamik des Landes zu tun. ... Die Türkei hat sich sehr schnell von den demokratischen Idealen entfernt, auf denen das Land gegründet wurde - und scheint sich zunehmend zu einem autokratischen Regime zu entwickeln, welches von Angst, Paranoia und Unterdrückung heimgesucht wird. Und meine Befürchtung ist, dass der tiefe Fall der Türkei in dieses schwarze Loch noch mehr Instabilität und Unsicherheit in einer bereits chaotischen Region zur Folge haben wird.“
Differenzen jetzt überwinden
Die Menschen in der Türkei müssen nach dem erneuten Terroranschlag gegen die Spaltung der Gesellschaft kämpfen, warnt Kolumnistin Nihal Bengisu Karaca in Habertürk:
„Nicht nur ich, auch alle meine Bekannten und von mir geachtete religiöse Menschen litten in dieser Nacht, als ob ihre Verwandten gestorben wären. ... Wir verurteilen diese Tat, aber es ist eine Tatsache, dass derjenige, der das Reina-Massaker verübte, sich bewusst war, dass es sehr unterschiedliche Lebensstile in der Türkei gibt. Der Anschlag zielte darauf ab, die Gesellschaft zu spalten. ... Wir sollten daher unsere Gemeinsamkeiten stärken. Rufen Sie alte Freunde an, mit denen es in den letzten Jahren gedankliche, politische oder ideologische Differenzen gab, und zeigen Sie Empathie, kondolieren Sie und kitten Sie Risse. Denn es reicht nicht zu sagen, dass die Terroristen erfolglos sind. Wenn wir unsere Haltungen und Reflexe nicht ändern, werden sie eines Tages Erfolg haben.“
Alle Opfer sind gleich
Die Toten des Attentats im Istanbuler Nachtclub Reina werden von der türkischen Regierung nicht wie sonst bei Terror-Opfern üblich als Märtyrer bezeichnet, sondern als Todesopfer, kritisiert Karar:
„Wir sollten den Begriff Märtyrer generell für unschuldige Menschen benutzen, die brutal getötet werden und dem Terror zum Opfer fallen, denn es besteht kein Unterschied zwischen den Menschen, die nach einem Fußballspiel dem Terror zum Opfer fielen oder durch Kugeln getötet wurden, während sie sich im Nachtclub vergnügten. ... Wenn unser Land aus allen Richtungen von Terroranschlägen heimgesucht wird, wenn diese Kugeln gegen unsere nationale Einheit und Solidarität, ja gegen unsere Brüderlichkeit gerichtet werden, dann sollte jeder Bürger, der bei diesen Attentaten ums Leben kommt, als Märtyrer bezeichnet werden! Punkt.“