Darf EU in Flüchtlingskrise auf Libyen setzen?
Durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Libyen will die EU die Migration aus Nordafrika eindämmen. So sollen schärfere Kontrollen an der libyschen Küste dazu führen, dass Flüchtlinge nicht das Mittelmeer überqueren, sondern in Aufnahmeeinrichtungen in dem Land bleiben, beschlossen die Staats- und Regierungschefs auf Malta. Kommentatoren glauben, dass ein Abkommen mit dem instabilen Staat nichts bringt und sehen Moskau auf den Plan treten.
Wieder mal mischt Putin mit
Dass Moskau in Libyen mitmischen will, macht es für die EU nicht leichter, fürchtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Einen libyschen Plan hat inzwischen auch Russland, das Gefallen an der Rolle als Risikoinvestor in gescheiterten Staaten zu finden scheint. Das ist wieder ein geschickter Schachzug Putins. Den syrischen Schauplatz, der für die Sicherheit Europas von höchster Bedeutung ist, hat er schon unter Kontrolle. Nun greift er nach dem zweiten großen Einwanderungstor in die EU, in dem es nebenbei auch noch viel Öl und Gas gibt. Müssen die Europäer bald nach Moskau reisen, um ihre Grenzen zu sichern? Der Preis, den sie für ihre strategischen Fehler in der Vergangenheit und ihre Uneinigkeit in der Gegenwart zahlen, wird immer höher.“
Libyen ist ein schwieriger Partner
Um die Migration aus Nordafrika einzudämmen, braucht es mehr als ein Abkommen mit einem instabilen Land, warnt Kaleva:
„Das große Problem des Abkommens ist, dass Libyen geteilt ist. In der Hauptstadt Tripolis hat die von der UN akzeptierte Regierung die Macht, die Ölgebiete im Osten wiederum kontrolliert General Chalifa Haftar. Dass Russland seine Beziehungen zu Haftar verbessert, macht es jetzt noch schwieriger, das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen. … In der EU ist bereits die Sorge geäußert geworden, dass Russland mit Hilfe seines Verbündeten versuchen könnte, die Migration nach Europa aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise der Union neue Probleme zu bescheren. Eine Lösung wird zudem durch die Tatsache erschwert, dass die Zukunftsaussichten der jungen Menschen in vielen afrikanischen Staaten schlecht sind. Will man den Migrationsdruck verringern, verlangt dies jahrzehntelange Arbeit. Hier wird mehr benötigt als eine Nothilfe für Libyen.“
Durchbruch auf Malta täte Europa gut
Rom hat mit einem binationalen Abkommen mit Tripolis gute Vorarbeit geleistet, jetzt muss die EU folgen, findet La Stampa:
„Italien hat gestern vom libyschen Premier erstmals das Zugeständnis erhalten, dass das Land den Flüchtlingsstrom unter Kontrolle bringen will. Wir wissen nicht, inwieweit es Fajes as-Sarradsch gelingen wird, dem Versprechen nachzukommen. Er hat Italien um Hilfe auf libyschem Territorium gebeten und sich damit der Gefahr ausgesetzt, heimlicher postkolonialer Absprachen bezichtigt zu werden. Italien wird ihm die Hilfe nicht verweigern, doch braucht es Europa an seiner Seite. ... Für die EU steht ihre Glaubwürdigkeit nicht nur in der Migrationsfrage, sondern auch bezüglich der Stabilität und Sicherheit des Mittelmeers auf dem Spiel. ... Die Unterstützung Fajes as-Sarradschs würde auch das Image der EU aufbessern, und das hat sie dringend nötig. Sie würde das Treffen in Malta zu einem Gipfel des Erfolgs machen, am Vorabend des großen Brexit-Debakels.“
Ohne Lösung für Flüchtlinge kann EU einpacken
Die EU sollte zunächst eine gemeinsame Flüchtlingspolitik entwickeln, bevor sie sich anderen Problemen zuwendet, mahnt Jyllands-Posten im Vorfeld des EU-Gipfels auf Malta:
„In der Reihe der Herausforderungen kann es beinahe unüberschaubar sein, einen Anfang zu finden. Die EU-Länder sind jedoch am besten beraten mit der Einwanderung zu beginnen. Diese zu meistern, kann entscheidender für die Zukunft der EU sein als Trumps mangelndes Engagement [in Europa]. ... Wenn Europa stark genug werden will, um auf eigenen Beinen zu stehen, sind die Führer der EU gezwungen eine Lösung zu finden, die zum Teil eine Stärkung der äußeren Grenzen sowie ein gemeinsames Agieren für die sich bereits in Europa befindlichen Migranten beinhaltet. Wenn ihnen das nicht gelingt, wenden sich die Wähler von Europa ab. Putin wird sich freuen und Donald Tusk kann sein Büro schließen. Das war´s dann.“
Menschenrechte fallen wie Dominosteine
Die Flüchtlingskrise hat die traurige Erkenntnis gebracht, dass die EU de facto keine politische Gemeinschaft ist, sondern eine Interessensvereinigung der Mitgliedstaaten, so Večer:
„Die EU funktioniert, solange die Mitglieder, vor allem die größten und stärksten, vom gemeinsamen Wirtschaftsraum einen Vorteil haben. Sobald die Staaten die Last in der Bewältigung von Krisen teilen müssen, kennt die EU keine Gnade oder Solidarität mit den Ländern der Peripherie. Die am stärksten betroffenen Länder der Peripherie können nur damit rechnen, ein wenig Kleingeld dafür zu erhalten, dass sie das Problem, in dem Fall die Flüchtlinge, bei sich behalten. So sind Italien, Griechenland und einige Länder entlang der Balkanroute der Gnade und Ungnade der Entwicklung der Ereignisse ausgesetzt. ... Solange das so ist, werden die Errungenschaften der Zivilisation im Bereich der Menschenrechte auf europäischem Boden wie Dominosteine fallen.“
Abkommen mit Libyen ist Schnapsidee
Auf gar keinen Fall darf die EU Flüchtlinge in den krisengeschüttelten nordafrikanischen Küstenstaat zurückschicken, schimpft The Malta Independent:
„Die Möglichkeit, dass die EU ernsthaft erwägen könnte, Migranten nach Libyen zurückzuschicken, ist angesichts der schlimmen Menschenrechtsverletzungen, die dort drohen, ein echter Grund zur Sorge. Die Betroffenen gehen davon aus, genau diesen Menschenrechtsverletzungen entkommen zu sein - und dann werden sie nach Libyen zurückgeschickt, wo sie sich diesen erneut gegenübersehen. Der Vorschlag, dass sich die EU vor der Umsetzung internationalen Rechts drücken und Menschen nach Libyen zurücksenden könnte, wo ihnen Misshandlung droht, ist eine Schnapsidee. Selbst wenn eine rechtliche Begründung für die Rückführung gefunden werden könnte, wäre das nichtsdestotrotz eine grobe Verletzung des Anstands und würde genau jene Werte verraten, auf denen die EU selbst errichtet wurde.“
Deutschland Vorbild in Zynismus
Deutschlands Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist so menschenverachtend, dass sich die deutsche Bundesregierung Kritik am neuen US-Präsidenten verkneifen sollte, rät die Bild:
„Die Türkei hat die Grenze zu Syrien so abgeriegelt, dass es für die Opfer und Geschundenen des Assad-Regimes keine Zuflucht mehr gibt. Wer versucht, aus Syrien in die sichere Türkei zu flüchten, wird an der Grenzanlage erschossen. Das ist die Art von 'Einreisestopp', den unsere Bundesregierung ausgehandelt hat. Wenn irgendwer in Deutschland behauptet, Trumps Erlass gefährde Menschenleben, sollte er sich erstmal daran erinnern, was deutsche Politik seit Monaten anrichtet. Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident-in-Wartestellung Steinmeier und Neu-Außenminister Sigmar Gabriel haben den deutschen Einreisestopp höchstpersönlich verhandelt und durchgesetzt. Und für die betroffenen Menschen ist er deutlich bedrohlicher als alles, was Trump bisher erlassen hat.“
EU braucht starkes Band mit Afrika
De Volkskrant hält Abmachungen mit Libyen für höchst unrealistisch und schlägt andere Maßnahmen vor:
„Libyen ist ein scheiternder Staat ohne zentrale Autorität, in dem sich Milizen einander bekämpfen. Außerdem sind die Milizen als Bewacher der Internierungslager dick im Geschäft des Menschenschmuggels, und auch die Küstenwache sieht diesen als willkommene Einnahmequelle. ... Ohne eine wirksame Bewachung der europäischen Südgrenze wird es der EU nicht gelingen, die Migrationsströme zu beherrschen. ... Die EU will eine umfassende Afrikapolitik initiieren, um die Ursachen der Wirtschaftsmigration mit Hilfe eines gut gefüllten Afrikafonds zu bekämpfen. ... Zu guten Beziehungen zu Afrika gehört außerdem, dass es Zugang bekommt zum europäischen Agrarmarkt. EU-Blockaden müssen abgebaut werden. Wenn das auf Malta verwirklicht wird, wäre das ein echter Durchbruch.“
Berlin lässt den Süden links liegen
Solange Deutschland kein Interesse am Libyen-Problem und generell an Südeuropa zeigt, ist keine Lösung zu erwarten, befürchtet Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
„Das Mittelmeer ist für Deutschland offenbar eher ein lästiges Hindernis auf seinem Triumphmarsch durch die Wirtschaft. ... Deutschland hat absolut kein Verständnis für die Rolle des Mittelmeers und ist dabei nicht frei von einer gewissen anthropologischen Verachtung; es ist unfähig, zu begreifen, welche entscheidende Bedeutung der geopolitische Meeres-Limes für das kulturell-historische Fundament Europas besitzt und somit für das Projekt, Europa zu einem authentischen politischen Subjekt zu machen. Und genau deshalb kann Deutschland nicht der wahre Motor der EU werden.“