Wie der Putschversuch die Türkei verändert hat
Die Türkei hat mit vielen Veranstaltungen dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 gedacht. Zehntausende versammelten sich zu einer Rede von Präsident Erdoğan, in der dieser sich erneut für die Todesstrafe aussprach. Wie bewerten Europas Kommentatoren die Veränderungen im Land seit dem vergangenen Sommer?
Die Republik des Rächers
Erdoğan versucht, eine ganz neue Türkei aufzubauen, erklärt der Tages-Anzeiger:
„Den Putschversuch nutzt der Rächer, um einen neuen nationalen Gründungsmythos zu schaffen. Auf den Trümmern der prowestlichen Republik, die von Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde, soll eine stockkonservative, islamistische und chauvinistische Türkei entstehen. Die Weichen dafür sind gestellt: Die Evolutionslehre ist nichts für die türkische Jugend, dafür bekommen die Schulen eigene Gebetsräume, Polizisten und Soldaten sollen religiöse Eidesformeln rezitieren, kritische Geister werden mundtot gemacht. Die Repressionswelle richtet sich längst nicht nur gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung, sondern auch gegen säkulare Türken, Kurden, Linke, Liberale.“
Die Türkei erfindet sich neu
Die regierungsnahe Tageszeitung Sabah freut sich über die tiefgreifenden Veränderungen seit dem Putschversuch:
„Sowohl die staatliche Struktur hat sich grundlegend verändert als auch der Blick der Gesellschaft auf Politik und Staat - so drastisch, als lebten wir bereits seit hundert Jahren in dieser neuen Ordnung. Das Wichtigste ist, dass die Streitkräfte nicht mehr wie eine kemalistische Partei empfunden werden. ... In der Außenpolitik gegenüber sogenannten befreundeten und verbündeten Staaten folgt man nun der Linie 'Geht uns aus der Sonne, mehr wollen wir nicht'. ... Und seit der letzten Verfassungsänderung wissen wir, dass nun auch die Grundstrukturen dieser neuen Ordnung Geltung haben. ... Kurz gesagt, ab jetzt ist nichts mehr, wie es war.“
Demokratischer Widerstand formiert sich
Der im Exil lebende Journalist Can Dündar beobachtet in Le Monde einen wachsenden demokratischen Widerstand gegen die türkische Regierung:
„Die Sozialdemokraten, die bisher aus politisch-strategischen Gründen versuchten, sich den Zentrums-Parteien anzunähern, sind erstmals auf die Straße gegangen. Die anderen politisch links angesiedelten Bewegungen sind schnell dazugestoßen. Man kann von einer demokratischen Front sprechen, die sich spontan auf den Straßen Istanbuls gebildet hat. Der Leitspruch ihrer Demonstration, 'Gerechtigkeit', spricht ein Bedürfnis an, das stark genug ist, um alle unter seinem Banner zu versammeln. Es ist ein Wahlspruch von ganz grundlegender Bedeutung. Denn er zeigt, dass die Gesellschaft sich trotz allen Drucks weigert, sich zu unterwerfen. Das Schicksal der Türkei und Erdoğans wird von einer Protestbewegung der Straße besiegelt werden.“
Späte Einsicht der EU
Und Duma freut sich, dass die EU ihre Haltung zur Türkei überdenkt:
„Vor einem Jahr glaubte man noch, dass Erdoğan nach dem Putschversuch und der anschließenden gewaltsamen Verfolgung seiner Opponenten seinen an die türkische Gesellschaft angelegten Würgegriff allmählich lockern würde, um die Wogen zu glätten. Doch er entschied sich für das Gegenteil und baute seine Gewaltdiktatur weiter aus. ... Für uns Bulgaren und Europäer ist diese Entwicklung besorgniserregend. … Die Türkei entfernt sich von Europa, sagt nun auch [EU-Kommissionspräsident] Juncker, wenn auch etwas spät angesichts der vielen Erpressungsversuche und prinzipienlosen Kompromisse, die Europa mit der Türkei während der Flüchtlingskrise eingegangen ist. Doch späte Einsicht ist bekanntlich besser als keine.“
Die demokratische Kultur wird hochgehalten
Die Türkei hat seit dem Putschversuch einen weiten Weg zurückgelegt, schlussfolgert Daily Sabah zufrieden:
„Der Kampf des Staates gegen die gülenistische Terrorgruppe (FETÖ), die bereits lange vor dem Putschversuch als Bedrohung für die nationale Sicherheit auf die schwarze Liste gesetzt wurde, wird fortgesetzt und gewinnt immer mehr an Dynamik. Die Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch laufen in Übereinstimmung mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates. ... Trotz dieses unter außergewöhnlichen Bedingungen geführten Kampfes wurde der führenden Oppositionspartei die Gelegenheit eingeräumt, einen 25 Tage andauernden Marsch zu organisieren, zu dem sich ungefähr 175.000 Menschen versammelten. Mit anderen Worten: Die demokratische Kultur in unserem Land wird hochgehalten.“
Kein Grund zu feiern
Ganz anders sieht das Cumhuriyet:
„Nach dem 15. Juli 2016 stürzte sich die AKP, rasend vor Wut über den Verrat und Betrug, auf die Fetö und verhaftete zehntausende Verdächtigte. Dem widersprechen wir nicht! Doch die Sache lief aus dem Ruder. Tausende Akademiker, Künstler, Journalisten, kurdische Politiker, Oppositionelle aus allen Teilen der Gesellschaft wurden ebenfalls eingesperrt, obwohl sie überhaupt keine Verbindung zur Fetö haben. Nach dem 15. Juli hätten wir in unserem Land ein neues Kapitel der Demokratie eröffnen können. Doch das hat nicht geklappt. Das morgige Jubiläum hätte von der gesamten Gesellschaft gemeinsam gefeiert werden können. Doch das wird nicht geschehen. Uns wurde die Feierlaune verdorben. Leider!“
System Erdoğan ist auf Sand gebaut
Der Tagesspiegel glaubt nicht, dass die Machtfülle von Präsident Erdoğan und dessen AKP zu dauerhafter Stabilität führen kann:
„Erdoğan kann nicht mehr zurück. Ein Kurswechsel hin zu Reform und Rechtsstaat würde seine persönliche Macht untergraben. So ist er dazu verdammt, die Rechte seiner Bürger immer weiter einzuschränken, bei jedem Rückschlag neue innere und äußere Feinde als Sündenböcke zu benennen und die Staatsgeschäfte immer stärker an sich zu ziehen. Das kann noch eine Weile gut gehen, doch auf Dauer ist der Präsident zum Scheitern verurteilt: Sein ganzes Streben gilt ausschließlich der eigenen Machterhaltung. Ein Zukunftsmodell für die Türkei ist das System Erdoğan nicht.“