Wie visionär ist Junckers Rede?
Kommissionspräsident Juncker will, dass alle EU-Länder den Euro einführen und dem Schengen-Raum beitreten. In seiner jährlichen Rede zur Lage der EU plädierte er außerdem für einen europäischen Finanzminister. Juncker konzentriert sich auf machbare Reformen, loben einige Kommentatoren. Anderen halten seine Vorschläge schon jetzt für überholt.
Ideen sind sinnvoll und leicht umsetzbar
Gelungenen Pragmatismus bescheidet El País Junckers Plänen:
„Die konkreteren Vorschläge von Juncker haben zwei Vorteile: Sie können einerseits schnell umgesetzt werden, ohne dass die Verträge geändert werden müssen und entsprechen andererseits der Notwendigkeit, die EU-Institutionen zu stärken, indem Arbeitsmarkt- und Finanzregeln aneinander angeglichen werden, damit der Binnenmarkt mehr wird als nur ein bloßes Konzept. ... Die große Hürde besteht wie immer darin, dass der Rat den ambitionierten Vorschlägen zustimmen muss. Ungeduldig warten alle auf neuen Schwung aus Berlin und eine verstärkte Allianz zwischen Deutschland und Macrons Frankreich.“
Juncker ist von gestern
Junckers Visionen von Europa sind längst überholt, kritisiert Finanz und Wirtschaft:
„Länder wie Polen und Schweden sollen gefälligst die Einheitswährung übernehmen, Schengen muss für alle gelten, ein EU-Finanzminister ist vonnöten, Brüssel braucht mehr Geld. Bemerkenswert ist übrigens, dass Juncker, wie andere auch, meistens grossspurig 'Europa' sagt, wenn er nur die EU meint. Der Chef der EU-Exekutive ist ein Mann von gestern, nicht auf der Höhe der Zeit. Die Ereignisse in den vergangenen Jahren haben seinen festen Glauben nicht ins Wanken gebracht. Was die EU und, in der Tat, ganz Europa brauchen, ja: was Europa ausmacht, ist Vielfalt. Erst im März hatte die EU selbst flexible Modelle vorgelegt, die dieser Lebenswirklichkeit gerechter würden.“
Eurozone braucht neuen Rahmen
Juncker hat in seiner Rede den Euroraum vernachlässigt, gibt Ökonom Alberto Quadrio Curzio in Il Sole 24 Ore zu bedenken:
„Es mangelt an Vorschlägen für eine Stärkung des Euroraums, der sich nicht im Wesentlichen auf die deutsch-französische Achse stützen darf. ... Die Eurozone ist nur wegen der Gemeinschaftswährung stark (für die EZB-Präsident Draghi verantwortlich ist). Ihr müsste zumindest eine Finanzinstitution zur Seite gestellt werden - und zwar ein erneuerter Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM). Der Wirkungsradius des ESM müsste auf die Realwirtschaft, die gemeinschaftliche Verteidigung und auf außereuropäische Aktivitäten ausgeweitet werden.“
Sture Euro-Erweiterung nützt Rechtspopulisten
Europa sollte nicht über eine gemeinsame Währung geeint werden, meint Spiegel Online:
„Die Währung kettet einen wirtschaftlichen Zwerg wie Griechenland an eine ökonomische Großmacht wie Deutschland. Glücklich wurde damit in den vergangenen Jahren keine Seite. … Die Gemeinschaftswährung macht es den Südeuropäern unmöglich, ihre Wettbewerbsfähigkeit über Abwertungen statt Einsparungen zu verbessern. … Indem Juncker unverdrossen an diesem Plan festhält, nährt er gleich zwei Vorbehalte gegenüber der EU: Zum einen, dass es dem Staatenbund vor allem um die Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen gehe. Zum anderen, dass Brüssel auf Krisen immer nur eine Antwort habe: mehr Integration, auf Biegen und Brechen. Dieses Bild einer übermächtigen und lernunwilligen EU nützt nicht zuletzt Rechtspopulisten.“
27 Steuermänner bringen Schiff nicht voran
Weil Juncker es allen recht machen muss, haben seine Zukunftspläne für die EU keine Aussicht umgesetzt zu werden, prophezeit die Neue Zürcher Zeitung:
„Der Wille, die absolute Einheit der 27 Mitgliedstaaten zu wahren, zwingt Juncker zu einem Balanceakt. Er plädiert zwar für mehr Freihandel, befriedigt aber auch protektionistische Kräfte mit Regulierungen der Arbeitnehmermobilität und Vorschlägen zum Schutz vor ausländischen Direktinvestitionen. ... Mit solchen Manövern lassen sich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, politischen Ziele und nicht zuletzt Wertehaltungen in den 27 Mitgliedstaaten nur notdürftig kaschieren. Widerstand gegen Junckers Pläne ist programmiert. Anders als vor Jahresfrist ist das europäische Schiff nicht mehr akut vom Kentern bedroht. Es wird aber auch nur schwerlich vorankommen, solange 27 Steuermänner unterschiedliche Richtungen anpeilen.“
EU der Eliten und Bürokraten
In seiner Rede hat Kommissionspräsident Juncker nichts Überraschendes gesagt, urteilt Primorske novice:
„Durch ihn sprachen die größten politischen Gruppierungen, die größten Mitgliedstaaten, die wirtschaftliche Elite und die Brüsseler Bürokraten. ... Die EU wird den Nationalstaaten einen weiteren Teil ihrer Souveränität nehmen. Sicher, sie wird auf Freiheit, Chancengleichheit und Rechtsstaatlichkeit basieren. Doch um die Europäer davon zu überzeugen, dass die EU nicht nur aus einem einheitlichen Markt und einer gemeinsamen Währung besteht, braucht es mehr als die Vorstellung verschiedener Szenarien und Medienpropaganda. Unverzichtbar dabei ist die eigene Vorbildfunktion, mit der die ranghöchsten europäischen Vertreter die Europäer davon überzeugen können, dass es bei der EU auch um gemeinsame Werte geht.“
Europa kommt wieder in Form
Lob für seine Rede erntet Juncker von Pravda:
„Vom Anfang bis zum Ende sprach er über die nach dem Brexit neuen Möglichkeiten, die sich für die Union eröffnen und die es zu nutzen gelte. Der Gipfel vom März 2019 im rumänischen Sibiu soll laut Juncker eine stärkere, sich weiter integrierende EU erleben. Wer in der EU die Unterschiede ausgleichen und Ungerechtigkeiten beseitigen will, braucht nicht weniger, sondern mehr Union. Ein europäischer Finanzminister etwa könnte der Vorbote einer Fiskalunion sein, dank derer sich Katastrophen, wie die griechische, gerechter und eleganter lösen ließen. ... Der Kommissionschef war in Straßburg in Form. Mehr noch: Die EU ist in Form, um vorwärts zu kommen. Endlich.“
Berechtigter Optimismus
Junckers Zuversicht mit Blick auf die EU deckt sich mit den Zahlen und Fakten, führt The Irish Times aus:
„Die EU befindet sich im fünften Jahr einer konjunkturellen Erholung, die endlich alle Mitgliedstaaten - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - erreicht. Ihr Wirtschaftswachstum hat die letzten zwei Jahre das der USA überholt und die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit neun Jahren. ... Die Union hat es geschafft, die Flüchtlings- und Schuldenkrise zu überstehen und dabei ihre Institutionen intakt zu halten. Und auch die Welle rechter Populisten schwillt ab. Mit dem Brexit wird die EU zwar die britische Wirtschaftsmacht und deren diplomatischen Einfluss verlieren. Es verabschiedet sich aber auch ein Mitglied, das immer etwas abseits des nach Integration strebenden Zentrums stand. Der Brexit wird die Union daher kohärenter machen.“
Endlich wieder Ambitionen
Wie Macron und Merkel in den vergangenen Wochen hat nun auch Juncker neue Wege für die europäische Zusammenarbeit aufgezeigt, freut sich La Croix:
„Er hat vorgeschlagen, die Wirtschaft anzukurbeln, Europa sozialer und die Eurogruppe effizienter zu machen und die strategischen Sektoren zu schützen. Diesem Katalog fehlt ganz offensichtlich kreativer Mut. Er zeugt jedoch vom Willen, auch wirklich voranschreiten zu wollen. Die überzeugtesten Europäer mögen vielleicht enttäuscht sein. Dennoch sollten sie sich aber beginnen zu freuen. Dazu genügt es, sich daran zu erinnern, dass all diese Ambitionen noch vor weniger als einem Jahr völlig illusorisch erschienen wären.“
Die Samthandschuhe ausziehen
Der Kommissionschef darf nicht allein eine schöne Vision von Europa skizzieren, er muss auch die widerständigen Mitglieder im Osten Europas an die Kandare nehmen, empfiehlt Delo:
„Juncker wird in seiner letzten 'starken' Rede zur Lage der Union nicht nur die kurzfristigen Ziele der Union festlegen, sondern auch den Inhalt seines politischen Vermächtnisses andeuten. ... Er wird seine Mission nicht erfüllen können, wenn Ungarn, Polen und anderen, die ihrem eigenen Weg folgen, nur gesagt wird - und sei es noch so deutlich -, dass ihr Handeln völlig inakzeptabel ist. Sie müssen auch die Folgen zu spüren bekommen. Solidarität, die allein auf Gerichtsurteilen beruht, ist wertlos. Die Bewertung von Junckers Mandat wird davon abhängen, was in den kommenden Monaten noch erreicht wird.“
Achtung vor zu viel Risikofreude
Der Politologe Hendrik Vos warnt in seiner Kolumne in De Standaard vor zu waghalsigen Plänen für die EU und führt das Brexit-Vorhaben als abschreckendes Beispiel an:
„Zwischen einer genialen und einer wahnsinnigen Idee liegt ein schmaler Grat. Die Briten können davon ein Lied singen. Die ließen sich von Typen einwickeln, die ihnen eine Fantasie vorgaukelten. ... Diese wird in einem totalen Fiasko enden, das ist jetzt schon überdeutlich. ... Wenn es den nüchternen Briten passieren kann, dass sie in großer Zahl in ihr Unglück rennen, warum geschieht das dann anderswo nicht viel häufiger? Die Antwort ist: Es gibt Puffer, die normalerweise zwischen einem wahnsinnigen Plan und seiner Ausführung liegen. Bevor Politiker zu waghalsig werden, tritt der Staatsapparat auf den Plan - normalerweise. Der mäßigt und stabilisiert.“