Ändert sich jetzt Deutschlands Europapolitik?
Schon vor dem Beginn der Koalitionsverhandlungen in Deutschland fragen sich Beobachter, wie sie Deutschlands Kurs in Europa prägen werden. Denn die möglichen Koalitionäre von CDU/CSU, FDP und Grünen bewerten beispielsweise die Reformvorschläge des französischen Präsidenten ganz unterschiedlich. Dass die Verhandlungen sich also lange hinziehen könnten, halten derweil nicht alle Kommentatoren für schlecht.
Große Ambitionen, wenig Spielraum
Le Figaro sieht nach der Wahl nicht nur die deutsche Kanzlerin geschwächt, sondern auch den französischen Präsidenten und sein Reformprojekt für Europa:
„[Macron] hatte mit der Bundesrepublik unter Merkel vereinbart, die EU auf ein neues Fundament zu stellen. Das war der Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Strategie. ... Zwar ist es sehr gut, dass Frankreich endlich wieder über Europa spricht und in Europa seine Stimme erhebt. Doch Worte sind nichts ohne die Macht und die Fähigkeit zu handeln, wie Barack Obama gezeigt hat. Merkel fehlen die politischen und Macron die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Erstere kann sich beim Thema Europa nur mutig zeigen, wenn letzterer sich bei der Transformation unseres Wirtschafts- und Sozialmodells mit Hilfe einer Art französischen Agenda 2010 als radikal erweist.“
Mit Regierungsbildung ruhig Zeit lassen
Für Europa wäre es möglicherweise gar nicht schlecht, wenn sich die deutsche Regierungsbildung eine Weile hinzieht, mutmaßt Spiegel Online:
„Denn in der Europapolitik steckt das größte Konfliktpotenzial der möglichen Jamaika-Koalitionäre. Die FDP hat sich eindeutig festgelegt: möglichst wenig Integration innerhalb der Eurozone, keine Transfers, keinen Europäischen Währungsfonds. Die Union und insbesondere die Grünen sehen das pragmatischer. Mit der FDP an der Regierung (und womöglich sogar einem FDP-Finanzminister im Amt) kann Deutschland Macron und seinen Vorschlägen kaum konstruktiv gegenübertreten. Solange sich aber die Regierungsbildung hinzieht ... könnte sich eine geschäftsführende Bundesregierung auf allerlei europäische Kompromisse einlassen - und sie gegenüber den Partnern in Berlin als unabweisbar darstellen. Schließlich will man sich in Europa nicht isolieren.“
Streit kann zu neuem Gleichgewicht führen
Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Deutschland wird auch die künftige EU-Politik prägen, prophezeit Politikberaterin Daniela Schwarzer in Kristeligt Dagblad:
„Das vielleicht heikelste Thema für die Koalitionsparteien wird die Eurozone sein. An dieser Front sind die Haltungen der FDP und der Grünen konträr, insbesondere im Hinblick auf gemeinsames Krisenmanagement, wechselseitige Versicherungsmechanismen und haushaltspolitische Instrumente. Dennoch könnte sich dieses Ringen um gemeinsame Positionen für die EU als nützlich erweisen, da sich ihre Spitzenpolitiker bemühen, ein Gleichgewicht zwischen der Verantwortung der Mitgliedstaaten und jenen Institutionen der Eurozone zu schaffen, die eine Währungsunion für ihre einwandfreie Funktion braucht.“
Das liberale Europa hat sich zu früh gefreut
Der Erfolg der AfD zeigt, dass das Problem des Rechtspopulismus in Europa nach der Niederlage von Le Pen in Frankreich noch lange nicht ausgestanden ist, analysiert Hospodářské noviny:
„Ein großer Teil namentlich der Ostdeutschen ist am Sonntag quasi der Visegrád-Gruppe beigetreten. Die flüchtlingsfeindliche AfD hatte gerade dort die meisten Zugewinne, wohin nach 2015 die wenigsten Ausländer gekommen sind. Es gibt eine Parallele zwischen den deutschen Populisten und den Regierenden in Polen und Ungarn und ähnlichen Gruppen in Tschechien und der Slowakei: je weniger Flüchtlinge, desto größer das Schreckgespenst. ... Außerdem steht Österreich vor einer Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten FPÖ. Die Freude der europäischen Liberalen nach den Wahlen in Frankreich war offensichtlich verfrüht.“
EU-Schiff auf der Fahrt ins Ungewisse
Ausgerechnet die Wahl in Deutschland macht der EU nun am meisten Ärger, stöhnt die Süddeutsche Zeitung:
„Viel wird davon abhängen, in welchem Ausmaß es der rechten Minderheit gelingt, die europapolitische Agenda zu setzen. Ohne einen proeuropäischen Konsens in Deutschland wäre die EU am Ende. Beunruhigend ist auch die Erkenntnis, dass die von Juncker beklagte Ost-West-Spaltung mitten durch Deutschland geht. Die besonderen Erfolge der AfD im Osten zeugen von einem gesellschaftlichen Klima, das jenem in Ungarn oder Polen nicht unähnlich ist. Männer wie Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen wird das anstacheln. Wohin das Schiff Europa segelt, ist nach der Bundestagswahl unklarer als zuvor.“
Bürger brauchen ein "schützendes Europa"
Die EU muss nun Macrons Appell nachkommen, ein "schützendes Europa" aufzubauen, mahnt Le Figaro:
„Für Paris sind die Neuigkeiten aus Berlin nicht so toll. Eine geschwächte Merkel IV, die von ihren euroskeptischen Partnern abhängig ist und von der anti-europäischen Opposition vor sich hergetrieben wird. Man glaubt, im Brüsseler Schlachtengetöse bereits Macrons Stimme ausmachen zu können, der Merkel hilft, den Angriffen auszuweichen. 'Mutti, Achtung auf der linken Seite! Achtung, von rechts!' ... Die großen ungelösten Fragen, wie die Migrantenkrise, haben den Durchbruch der deutschen Populisten ermöglicht. Um die EU zu retten, müssen Berlin und Paris ein 'schützendes Europa' aufbauen. Ein Europa, das seine Bürger schützt, seine Grenzen, seine Arbeitsplätze und seine Wettbewerbsfähigkeit.“
Griechenland bläst kalter Wind entgegen
Als eine schlechte Nachricht für Griechenland bewertet Protagon das Wahlergebnis:
„Es werden harte Koalitionsverhandlungen werden und die FDP hat bereits Forderungen für das Amt des Bundesfinanzministers erhoben. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Angela Merkel dies akzeptiert, werden die Gespräche, die die griechischen Minister mit Schäuble hatten, wie Smalltalk auf einem Kindergeburtstag anmuten. FDP-Chef Christian Lindner ist ein Verfechter der harten Linie, der Grexit steht auf seiner Agenda und wenn er zur Eurogruppe stößt, werden [der griechische Finanzminister] Euklidis Tsakalotos und [Premierminister] Alexis Tsipras kapieren, was es bedeutet einen Neoliberalen vor sich zu haben. Und wenn Schäuble in seinem Amt bleibt, wird er noch weniger kompromissbereit sein als bisher.“
Große Koalitionen belasten die Demokratie
Die herben Verluste für die Koalitionsparteien in Deutschland sollten auch Schweden zu denken geben, wo nächstes Jahr gewählt wird, mahnt Göteborgs-Posten:
„Dass zwei traditionell dominante Parteien eine große Koalition eingehen, kann auf kurze Sicht verlockend erscheinen, wenn es darum geht, parlamentarische Krisen zu vermeiden. … In Schweden sieht man blockübergreifende Koalitionen und Vereinbarungen oft als eine Möglichkeit, die [rechtspopulistischen] Schwedendemokraten von der Macht fernzuhalten. Am Beispiel Deutschlands sehen wir aber, dass dies langfristig die für eine Demokratie notwendige Opposition aushöhlt und dazu führt, dass ganz neue politische Machtpole entstehen. CDU und SPD mussten zwei harte Wahlniederlagen erleiden, um das einzusehen.“