War Polizeigewalt in Katalonien gerechtfertigt?
Hunderttausende haben in Katalonien gegen die Polizeigewalt während des Unabhängigkeitsreferendums protestiert. Beim Eingreifen der Sicherheitskräfte waren mehr als 800 Menschen verletzt worden. Das Vorgehen der Zentralregierung gegen das illegale Referendum war richtig und daran ändert auch der Protest nichts, betonen einige Kommentatoren. Andere fordern den Rücktritt des spanischen Premiers.
Demokratie wird für Staatsstreich missbraucht
El País verurteilt die separatistischen Politiker als Volksverhetzer:
„Mit den gestrigen Ereignissen wurde deutlich, dass sich die katalanische Regionalregierung wie ein Komitee professioneller Aufhetzer verhält, wie eine aufständische Anti-Institution. Sie handelt wie ein Apparat, der gegen das liberale System aufwiegelt und dabei die Privilegien der demokratischen Institutionen missbraucht, um Schritt für Schritt einen Staatsstreich durchzuführen. ... Weder die Reaktion auf irgendeine Gewalt noch der Applaus von irgendeiner Seite machen aus der ungültigen und betrügerischen Abstimmung ein legitimes Referendum.“
Premier durch Referendum gestärkt
Das Referendum hat die Position des spanischen Premiers gestärkt, glaubt Sicherheitsexperte Hadrien Desuin in Causeur:
„Mariano Rajoy, zunächst wegen der Zersplitterung des Parlaments geschwächt, steht nun als letzter Verteidiger der Einheit Spaniens da. Seine Standhaftigkeit und seine Entschlossenheit, den Separatisten keinen Deut nachzugeben, bringen ihm bereits die Wertschätzung der Wähler ein. ... Tumult und Aufruhr stärken am Ende immer diejenigen, die sich für Ordnung einsetzen. Die katalanische Polizei Mossos d'Esquadra hat keine Konfrontation gewagt: weder mit den Einsatzkräften aus Madrid noch mit den Aufrührern. Dass sie sich herausgehalten hat, verdeutlicht, dass das katalanische Referendum nicht gerechtfertigt war. Nach farblosen Regierungsjahren könnte sich der aus Santiago de Compostela stammende Premier noch zum Retter des alten Spaniens mausern.“
Rajoy muss seinen Hut nehmen
Pravda hingegen sieht für die verfahrene Lage nur einen Schuldigen:
„Die Regierung, die ja von der Entwicklung keineswegs überrascht sein konnte, wählte die schlimmste aller möglichen Antworten. Dabei hätte sie das Referendum, das sie verfassungswidrig nennt, einfach nur ignorieren müssen. Die Staatskasse befindet sich nicht in Barcelona, sondern in Madrid. Alles befindet sich in der Hand der Zentralregierung. ... Rajoys Regierung hat das Land binnen weniger Wochen nahezu an den Rand eines Bürgerkrieges geführt. ... Rajoys Rücktritt ist deshalb nicht nur eine Sache der politischen und moralischen Verantwortung, sondern auch Bedingung für einen Ausweg aus der entstandenen Situation.“
Gewalt wird zum Bumerang werden
Polizisten, die brutal auf friedliche Wähler eindreschen, werden nicht nur der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung weiteren Zulauf bescheren, schimpft Večernji list:
„Die spanische Regierung irrt, wenn sie denkt dass es mit Polizeigewalt (sogar gegen Frauen und Kinder) und dem Raub von Wahlurnen den Willen der Katalanen brechen kann. Im Gegenteil: Nach dem gestrigen Untergang der Demokratie ist sicher, dass die Zahl der Befürworter der Unabhängigkeit nicht nur in Katalonien steigen wird, sondern auch im Baskenland und vielleicht auch in einigen anderen spanischen Provinzen.“
Die EU hält einfach still
Dass die meisten europäischen Politiker kein kritisches Wort über die Gewalt in Barcelona verloren haben, ärgert die Tageszeitung Efimerida ton Syntakton:
„Die Bilder aus Katalonien sind beispiellos - nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa. Aber was sind die Reaktionen Europas? ... Nur wenige europäische Beamte bezogen Stellung zu den gewalttätigen Polizeirepressionen, und einige murmelten natürlich irgendwas über die Einheit Spaniens. Natürlich ist Rajoy kein 'autoritärer', 'gefährlicher', 'faschistischer' Führer wie etwa Venezuelas Präsident Maduro. Rajoy ist einer der unseren. Ein prominenter Vertreter der europäischen Rechten und einer der besten Kollegen im Block von Angela Merkel. Wie sähen eigentlich die Reaktionen aus, wenn die spanische Regierung sozialistisch oder wenn Podemos an der Macht wäre?“
So verliert Europa seine Vorbildfunktion
Der Polizeieinsatz hat die Glaubwürdigkeit Europas zerstört, konstatiert Dnevnik:
„Europa müsste in der Lage sein, eine demokratische Überprüfung der öffentlichen Meinung auch dann zu gewährleisten, wenn es für die Regierung eines Nationalstaats sehr unangenehm ist. ... Wenn die Unterdrückung von politischen Bewegungen durch die Polizei in Europa akzeptabel ist, dann kann auch keine europäische Institution die Regierung in Ägypten davon überzeugen, Fragen, die Minderheiten betreffen, ohne Panzer zu lösen. Europa kann der irakischen Regierung dann auch schlecht erklären, dass sie die inneren Spannungen auf demokratische Weise und durch Abmachungen beilegen soll. Wenn in Europa Polizeigewalt vor Wahllokalen akzeptabel ist, dann ist sie das überall sonst auch.“
Katalanen brechen altes Abkommen
Dass die Katalanen nach Unabhängigkeit streben, ist nach Ansicht der Rzeczpospolita eine große Gefahr für Spanien und Europa:
„Nach dem Tod Francos wurde ein Kompromiss geschlossen: 17 Regionen des Landes erhalten eine sehr weitgehende Autonomie, aber das Königreich bleibt vereint, außer wenn alle Spanier sich dagegen entscheiden. Das war das Modell für die demokratische Transformation Polens und vieler anderer Länder Mitteleuropas. Doch die Organisatoren des Referendums haben dieses Abkommen gebrochen. Wenn die Abstimmung von irgendeinem Staat des vereinten Europas anerkannt wird, bricht nicht nur die spanische Demokratie zusammen, sondern auch die EU, die nicht ohne die gegenseitige Loyalität der Mitgliedstaaten existieren kann.“
Separatismus ist unverantwortlich
Die Separatisten stürzen als Minderheit ein ganzes Land ins Unglück, wettert Corriere del Ticino:
„Einerseits geht es um die Spaltung zwischen einer schwachen Mehrheit, die gegen die Sezession ist, und einer starken Minderheit, die unbedingt die Nabelschnur durchtrennen will. ... Hinzu kommt der Bruch zwischen Spaniern und Katalanen, der wahrscheinlich folgenschwer sein wird. … Die katalanische Regierung frohlockt nun: Sie wird die Unabhängigkeit erklären und damit Spanien und die katalanische Gesellschaft weiter spalten. Sie tut dies auf der Basis eines Referendums, dem es an demokratischer Legitimität mangelt. Und das die Volksbefragung vom 9. November 2014 wiederholt, als bereits 1,9 Millionen Wähler (von 5,5 Millionen Wahlberechtigten) ja zur Unabhängigkeit sagten. Dies ist die starke Minderheit, die über das Schicksal eines ganzen Landes entscheidet.“
Trotz Verzweiflung nach vorne blicken
Trotz der offenbar ausweglosen Situation dürfen sich Politik und Gesellschaft jetzt nicht hängen lassen, mahnt La Vanguardia:
„Trostlosigkeit. Niemand kann auf die Ereignisse stolz sein. Niemand kann sich brüsten. Niemand kann sich zufrieden zeigen. Niemand kann sich als Sieger darstellen. Wir alle haben verloren. Und jetzt? Was ist zu tun? Zuallererst dürfen wir nicht im Selbstmitleid verharren. Es müssen sofort Wege des Dialogs gesucht werden. Wir schlagen die Einrichtung einer unabhängigen Kommission aus Juristen und angesehenen Persönlichkeiten vor, die innerhalb einer bestimmten Frist der spanischen Zentral- und der katalanischen Regionalregierung einen Lösungsvorschlag unterbreitet. Einen Vorschlag, der nach einer Einigung der politischen Instanzen der katalanischen Gesellschaft in einer friedlichen und freien Wahl zur Abstimmung vorgelegt werden könnte.“