Madrid will katalanische Autonomie aufheben
Um die separatistische Regierung in Katalonien an einer illegalen Abspaltung zu hindern, will die Zentralregierung in Madrid nun die Autonomie der nach Unabhängigkeit strebenden Region aufheben. Die Situation könnte jetzt erst recht eskalieren, fürchten Kommentatoren und zweifeln am politischen Geschick der Akteure.
Rajoy hat einfache Lösung des Problems verpasst
Die spanische Regierung hätte die Katalanen einfach abstimmen lassen sollen, meint The Irish Times:
„Es ist rätselhaft, wie die Zentralregierung eines scheinbar so sicheren Staats derart grob auf die versuchte Ausübung einer Form der direkten Demokratie reagieren konnte - wo doch jede Meinungsumfrage nahegelegt hatte, dass die Befürworter ihre Abstimmung verlieren würden. Es stimmt schon, 90 Prozent der Wähler stimmten für die Unabhängigkeit. Doch die Beteiligung lag bei nur 43 Prozent. Carles Puigdemont, der Chef der katalanischen Regionalregierung, hat die Aussagekraft des Ergebnisses zusätzlich relativiert, indem er sich vor einer echten Unabhängigkeitserklärung drückte. Eine solche wäre ja auch völlig unzulässig gewesen. Man muss sich fragen, wovor sich Premier Mariano Rajoy und seine Regierung in dieser Situation fürchteten.“
Nur Neuwahlen können den Frieden wahren
Die Einheit Spaniens und der gesellschaftliche Zusammenhalt stehen auf dem Spiel, warnt Die Welt:
„Diese Tage werden über die Zukunft des Landes entscheiden: Krieg oder Frieden - und das ist keineswegs nur symbolisch gemeint. Wenn es nicht gelingt, Katalonien zu integrieren, und zwar so, dass die Katalanen irgendwann wieder mit dem Herzen dabei sind, dann wird die spanische Einheit nicht mehr zu retten sein. Doch kann der Schritt, den die Zentralregierung in Madrid nun plant, den Frieden bringen? … Zu Dialog und Kompromiss waren weder die Regierung in Madrid noch die in Barcelona fähig. Vielleicht liegt es nun an der Zivilgesellschaft, auf die Straße zu ziehen und das Einzige zu fordern, was, mit Glück, den Frieden in Katalonien wieder herstellen kann: Neuwahlen.“
Wer bringt den rasenden Rajoy zur Räson?
Um eine weitere Eskalation nach einer drohenden Aufhebung der Autonomie Kataloniens zu verhindern, sollten die Vertreter des EU-Gipfels den spanischen Regierungschef Rajoy dringend zum Dialog auffordern, meint De Morgen. Madrids harte Hand
„passt nicht ins 21. Jahrhundert und kann zu großer Unsicherheit und Unruhe führen: Demonstrationen, Widerstand, Spannungen zwischen Spaniern, Gewalt. Mit seinem Macho-Verhalten ist Rajoy vielleicht der populärste Bub im Land, doch die Instabilität, die er mit seiner harten Hand schafft, ist einem Regierungschef unwürdig. Die Frage ist, wer den spanischen Premier in den nächsten Tagen noch zurückhalten kann. ... Wenn Angela Merkel und Emmanuel Macron beim EU-Gipfel in Brüssel den belgischen Aufruf zum Dialog unterstützen würden, dann hätte Rajoy viel weniger Spielraum zum Verrücktspielen.“
Rajoy gießt noch mehr Öl ins Feuer
Mit der Verhaftung zweier prominenter Köpfe der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung geht die spanische Regierung einen weiteren Schritt auf ihrem falschen Weg, befürchtet Novi list:
„Selbst wenn es gelänge, mit dieser Kombination politischen und polizeilichen Drucks die katalanische Unabhängigkeit zu brechen, hätte es einen bitteren Beigeschmack. Dies würde den Keim für neue Unruhen in zehn oder zwanzig Jahren bilden. Rajoy hätte viele andere Methoden an der Hand gehabt, die nun nicht mehr anwendbar sind, die die Situation aber zur beidseitigen Zufriedenheit hätten lösen können. Katalonien bleibt anscheinend in Spanien, doch wird Rajoy einen viel zu hohen politischen Preis dafür zahlen.“
Nur Mut, Katalonien!
Roberts Zīle, EU Abgeordneter der lettischen nationalistischen Partei Tēvzemei un Brīvībai/LNNK, ermuntert die Separatisten in Katalonien zum Durchhalten und erinnert in Latvijas avīze an die lettische Unabhängigkeitsbewegung:
„Diejenigen, die sagen, dass die spanische Verfassung kein Unabhängigkeitsreferendum für die Katalanen vorsieht, möchte ich daran erinnern, dass auch Lettland seine Unabhängigkeit mit Methoden erkämpfte, die in der UdSSR-Verfassung nicht vorgesehen waren. Auch damals vertraten die westlichen Länder die Position, dass die Unabhängigkeitsbemühungen der baltischen Staaten eine innere Angelegenheit der Sowjetunion waren. Und nun sollte Europa betrachten, wie sich die Sache entwickelt hat. ... Als Beispiel, wie sich solche Konflikte vermeiden lassen, sollte man das Referendum in Schottland nehmen.“
Mit Neuwahlen aus der Sackgasse finden
Die Situation ist so festgefahren, dass die Separatisten dem Druck aus Madrid nachgeben und den Weg für Neuwahlen freigeben müssen, glaubt El Periódico de Catalunya:
„Und wieder ging ein Tag zu Ende, ohne eine Lösung für das Problem zu finden. Dabei wird die Zeit immer knapper, sowohl um die Aufhebung der regionalen Autonomie nach Artikel 155 der Verfassung zu verhindern, als auch um die katastrophalen ökonomischen Auswirkungen dieser politischen Klemme zu bremsen. ... Nur eine unmissverständliche Rückkehr der autonomen Region zur Legalität kann den Dialog herbeiführen, den die Befürworter der Unabhängigkeit fordern. Und wahrscheinlich führt dieser nur dann aus der Sackgasse, wenn man der definitiven Antwort auf Rajoys Ultimatum die Ankündigung vorgezogener Neuwahlen anhängt.“
Warum die Sozialisten Rajoy den Rücken stärken
In der harten Politik gegen die Separatisten in Katalonien hat sich der sozialistische Oppositionsführer Pedro Sánchez hinter den konservativen spanischen Regierungschef Mariano Rajoy gestellt. Diese Haltung hat parteiinterne Gründe, weiß Corriere della Sera:
„Sánchez' Entscheidung ist weniger einer plötzlichen Begeisterung für die spanische Variante einer großen Koalition zuzuschreiben, als der Erkenntnis, dass das Aufbegehren der Katalanen in Restspanien völlig unpopulär ist - insbesondere in den ärmeren Regionen wie Andalusien und Extremadura, traditionellen Hochburgen der Sozialisten. Sánchez' parteiinterne Rivalin, die andalusische Ministerpräsidentin Susana Díaz, ist die größte Gegnerin der Separatisten in Barcelona. Ließe Sánchez Rajoy im Stich, führte dies zu einer Spaltung der PSOE mit verheerenden Folgen bei möglichen vorgezogenen Wahlen.“
Madrid bleibt keine andere Wahl
Sollte sich die katalanische Regierung am Montag nicht klar von einer Unabhängigkeitserklärung distanzieren, ist die Zentralregierung zum Durchgreifen gezwungen, schreibt El País:
„Der Staat kann die Existenz einer alternativen Rechtsordnung in einem seiner Territorien nicht tolerieren. Es bleibt ihm somit keine andere Wahl, als jene demokratischen Instrumente anzuwenden, die ihm die Verfassung an die Hand gibt, um die Normalität wieder herzustellen. Man sollte erwähnen, dass der Artikel 155 mit entsprechenden Passagen in Verfassungen anderer europäischer Staaten vergleichbar ist. Und dass der Sinn nicht darin besteht, die Autonomie einer Region (in diesem Fall Kataloniens) zu beeinträchtigen oder aufzuheben, sondern eine Region eben vor genau jener Willkür und jenem Gesetzesbruch zu schützen, wie sie Puigdemont, seine Regierung und deren Unterstützer im Parlament seit Jahren an den Tag legen.“
Wie Belgien den Separatismus im Zaum hält
Belgien hat die separatistischen Bestrebungen inzwischen besser im Griff, analysiert die belgische Journalistin Béatrice Delvaux im Figaro:
„Während Spanien von der Auflösung bedroht ist, scheint Belgien stabiler als je zuvor. Dabei hatten wir schon oft gedacht, es wäre alles zu Ende. Das verdanken wir dem belgischen Modell, diesem System des Dialogs und Verhandelns, das zwar zu aufwendigen Abkommen und zu undurchsichtigen und hochkomplexen Institutionen führt, das uns aber möglicherweise letztlich den Frieden erkauft hat. ... Der katalanische Anführer Puigdemont ist bereit, sein 'Volk' in ein institutionelles Abenteuer zu stürzen, das keineswegs auf ein glaubwürdiges und legitimes Referendum gestützt wäre. Die N-VA wiederum, die regionalistische flämische Partei, die stärkste Partei in Flandern und in Belgien, zeigt sich was das Thema angeht für ihren Teil jetzt sehr rational. “
Setzt Euch bitte endlich zusammen!
Trotz unterschiedlicher Erwartungen an einen wie auch immer gearteten Dialog dürfen die Beteiligten diese Chance nicht verpassen, fleht Chefredakteur Màrius Carol in La Vanguardia:
„Puigdemont fordert einen Dialog, aber ohne Vorbedingungen. Rajoy bietet einen Dialog an, aber innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Und EU-Ratspräsident Tusk meint, beide sollten den Dialog nutzen, um ihre Differenzen zu überwinden, aber innerhalb der Legalität. Da sitzen wir wieder im Hamsterrad, das sich zwar dreht, aber nicht vorwärtskommt. ... In jedem Fall ist die EU bereit, diesen Prozess zu begleiten und zu unterstützen. Diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen, wäre ein Fehler, den Europa nicht verstehen könnte.“
Retten, was zu retten ist
Jetzt muss die Chance für Verhandlungen genutzt werden, rät auch Karjalainen:
„Ein Grund für Kataloniens Verbitterung ist die Wirtschaft. Die Kritik der Katalanen, dass sie die Regierung in Madrid stärker finanzieren als gerecht wäre, ist begründet. In den letzten Tagen gab es jedoch auch Hinweise darauf, dass die Wirtschaft in einem unabhängigen Katalonien gar nicht so stabil wäre, wie als Teil Spaniens. … Da jetzt der Raum für Verhandlungen geöffnet wurde, muss dieser auch genutzt werden. Katalonien bekommt nicht die Selbstständigkeit, doch Rajoy wiederum kann es sich auch nicht leisten, Gewalt anzuwenden. Einen Ausweg würde das Baskenland-Modell bieten. So wie früher werden die Beziehungen zwischen Katalonien und Spanien allerdings nicht mehr.“
Puigdemont in der Klemme
Kataloniens Ministerpräsident ist in die Ecke getrieben, analysiert der Spanien-Korrespondent Lien Greven im NRC Handelsblad:
„Am Ende fühlen sich Freund und Feind von Puigdemont betrogen. Und das Ausland hält sich völlig raus. ... Puigdemont ist immer stärker isoliert und in einem fast unmöglichen Spagat gefangen. Eine Entscheidung für die Unabhängigkeit wird zum schnellen Eingreifen der spanischen Regierung führen, die Puigdemont und das katalanische Parlament über den Artikel 155 der Verfassung absetzen wird. Der Regionalpräsident würde vor Gericht gestellt und im Falle eines Schuldspruchs wäre seine politische Laufbahn beendet. Sollte sich Puigdemont aber dazu entscheiden, vorläufig von der Abspaltung abzusehen, verlöre er die ohnehin brüchige Mehrheit im katalanischen Parlament. Dann könnte er nur noch Neuwahlen ausrufen, und das Spiel begänne von vorn.“
Jetzt das Ruder herumreißen
Ebenso findet Der Standard, dass Puigdemont immer mehr mit dem Rücken zur Wand steht:
„Der Druck auf die katalanische Regierung, in der Autonomiefrage den Rückwärtsgang einzulegen, wird in den nächsten Tagen größer werden: vonseiten der Wirtschaft, vonseiten der EU, die Barcelona keine Perspektive bietet, vonseiten der Anti-Unabhängigkeitsbewegung, die immer stärker wird. Ein Beharren auf Unabhängigkeit führt immer deutlicher in Richtung Abgrund. Sollte sich diese Erkenntnis auch in Barcelona durchsetzen, kann Puigdemont der Mann sein, der Verhandlungen über eine weitreichende Autonomie beginnt. Wenn nicht, wird es wohl Neuwahlen geben.“
Neuwahl könnte Wunden heilen
Der katalanische Präsident hat Anhänger wie Gegner verwirrt, beobachtet Upsala Nya Tidning:
„Mit seiner Rede im Parlament am Dienstagabend versuchte Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont die Illusion aufrechtzuerhalten, dass das Referendum gültig sei - dass Katalonien ein unabhängiges Land werde. Allerdings haben weder Anhänger noch Gegner der Unabhängigkeit ihm dieses Spektakel abgekauft. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Neuwahlen in der Region stattfinden und eine neue Regierung die Aufgabe bekommt, die Wunden zu heilen, die in Katalonien und in Spanien entstanden sind.“