Italiens Wahlergebnisse: ein Votum des Zeitgeists?
Es war eine Wahl des Protests: Jeder Zweite hat bei der italienischen Parlamentswahl für Parteien gestimmt, die das aktuelle politische System herausfordern. Darunter populistische Parteien und solche vom rechten Rand. Eine Woche später versuchen Journalisten noch immer, dem Wahlergebnis auf den Grund zu gehen und für die Zukunft Schlüsse zu ziehen.
Keine andere Wahl als die Lega
Die EU trägt Mitschuld am Erstarken der extremen Rechten in Italien, konstatiert Times of Malta:
„Besonders gut hat die Lega im Norden Italiens abgeschnitten, wo sich eine große Zahl Zuwanderer niedergelassen hat. 600.000 irreguläre Migranten sind in den vergangenen drei Jahren nach Italien gekommen, und darüber darf genauso wenig hinweggesehen werden wie über die Unfähigkeit der EU, dem Land durch eine bessere Lastenverteilung in der Flüchtlingskrise zu helfen. Eine Unfähigkeit, die auf den Widerstand einiger osteuropäischer Mitgliedsstaaten zurückgeht. Viele Italiener hatten das Gefühl, sie hätten gar keine andere Wahl, als für die zuwanderungskritische Lega zu stimmen. Das darf man in den Brüsseler Schaltstellen der Macht nicht ignorieren.“
Finsternis über Europa
In den zahlreichen Niederlagen großer Traditionsparteien sieht Nowoje Wremja bereits einen gefährlichen Trend:
„Das ist die neue Norm. Die europäischen Eliten müssen dringend aufhören so zu tun, als ob nichts Besonderes vor sich ginge, und sich zusammenreißen. Andernfalls garantiere ich ihnen: Bereits in der nächsten Wahlperiode werden in den Ländern der Alten Welt neue Mussolinis aufzutauchen, denen moderne Ausgaben von Hitler folgen. Schuld werden nicht die dummen Wähler sein, sondern kluge Minister und Abgeordnete, die sich allein um ihre Sponsoren aus den großen Banken und Unternehmen sorgen. Und die den einfachen Wähler den Populisten, Nationalisten und Sozialisten aller Couleur überlassen. Über Europa braut sich die Finsternis zusammen. Und das ist sehr, sehr ernst.“
Verspieltes Vertrauen
Der Rechtspopulismus ist ein Apell derer, die sich zurückgelassen fühlen, urteilt Aftonbladet:
„Als die EU vor rund 15 Jahren erweitert wurde, hätten wir besser nachdenken müssen - etwa über die Verlierer der Globalisierung. ... Im Nachhinein ist auch klar, dass die EU ein stabileres Fundament bekommen hätte, wenn sie in ruhigerem Tempo erweitert worden wäre. ... Die Parteien der populistischen und antieuropäischen Bewegung sind in erster Linie 'Lagerfeuer des Misstrauens', wie es die Uni Göteborg nennt. ... Hier versammeln sich jene, die Gesellschaft, Politik und Medien nicht mehr trauen. Wollen wir den Trend umkehren, müssen wir hier beginnen. Medien und Parteien müssen sich fragen: Warum vertrauen sie uns nicht? Und die Antworten müssen sie sich sehr genau anhören.“
Europa tickt anders, als der Norden denkt
EU-Kommissar Frans Timmermans hat den Wahlausgang in Italien als Alarmsignal für Europa bezeichnet. Der Rumänische Dienst der Deutschen Welle widerspricht:
„Wir, die wir die Lage aus Osteuropa heraus betrachten, haben einen kleinen Vorteil: Weil wir nicht zu den Hauptakteuren der europäischen Konstruktion gehören, sehen wir die Dinge klarer. Die Deutschen oder Niederländer (auch die Franzosen), die den Integrationsprozess anführen und ein Europa nach dem Muster der nördlichen Staaten formen wollen, sehen in den unvorhersehbaren Bewegungen des Südens eine 'Abweichung' von Europa, eine Art 'Desertation', der man umgehend begegnen sollte. Aber wir müssen auch feststellen, dass die 'Abweichungen' inzwischen zur Norm geworden sind. Das bringt uns zur Annahme, dass das Europa, von dem Timmermanns spricht, ein Minderheitenprojekt ist und an die Realität angepasst werden sollte.“
In Europa lauert das Böse
Auch Dimitris Christopoulos, Präsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH), mahnt in Efimerida ton Syntakton, dass das italienische Wahlergebnis mehr ist als nur eine Unregelmäßigkeit:
„Heutzutage dominiert Europas Politik eine diffuse Mittelmäßigkeit. Und Mittelmäßigkeit ist nie attraktiv. Sie überzeugt nicht, sie inspiriert nicht. Stattdessen kann das Böse die Menschen bezaubern, attraktiv für sie sein, so wie es in der europäischen Vergangenheit geschehen ist. Die politischen Szenarien unseres Kontinents erinnern ein wenig an Hollywood-Filme, bei denen wir von Anfang an wissen, dass der gute Mann am Ende des Dramas siegen wird. Doch das italienische realistische Kino würde viel besser zu uns passen. Dort würde Italien den Weg weisen. Solange Europa mittelmäßig bleibt, lauert das Böse. Italien hat uns den Gefallen getan, dies laut zu sagen.“
Kann das Movimento 5 Stelle Realpolitik?
Movimento 5 Stelle ist eine Protestbewegung, die in gewisser Hinsicht mit Macrons En Marche vergleichbar ist, konstatiert die US-Publizistin Anne Applebaum in Gazeta Wyborcza:
„Beide Parteien verbindet ihre Verankerung in der virtuellen Welt, sie unterscheiden sich aber in ihren Zielen. En Marche ist eine pro-europäische Bewegung, die sich bemüht, Frankreich zu modernisieren, die politische Kultur des Landes zu erneuern und die Franzosen auf das Leben in einer globalisierten Welt vorzubereiten. Die Sprache von Movimento 5 Stelle war von Anfang an dunkler und nihilistischer konnotiert. ... Wenn diese 'Nicht-Partei' ihre Sehnsucht nach Reformen in eine klare politische Philosophie übersetzen würde, könnte sie viel erreichen. Dazu müsste sie jedoch die Begeisterung ihrer Führung für die digitale Welt in eine Strategie für die reale Welt umsetzen. Noch ist unklar, ob sie dazu in der Lage ist.“
Wähler waren nicht von Ideologie getrieben
Schubladendenken hilft bei der Analyse dieser Wahl nicht weiter, meint Večernji list. Statt sich an den ideologischen Linien der Parteien aufzuhängen, sollte man
„auf den Wunsch der Wähler nach Veränderung schauen. Warum versucht man, das Movimento 5 Stelle und die Lega in ideologische Rahmen zu zwängen? ... Vielleicht möchte das junge Europa ja gerade die ideologischen Gräben überwinden und die Gesellschaft auf dem Streben der Menschen nach Erfüllung ihrer Bedürfnisse aufbauen. Das neue Italien mit seiner 'unideologischen' Partei M5S ist möglicherweise das Labor für die Zukunft Europas. Die Italiener haben nicht nach dem Herzen gestimmt, sondern danach, was sie in Zeiten der Globalisierung zu essen haben werden.“
Aufschrei der Zurückgelassenen
Corriere della Sera blickt auf den Absturz der Linken und erklärt, was deren Politik zum Scheitern gebracht hat:
„Erstens das Ende der Ära der Defizitfinanzierung. Also der Möglichkeit, durch öffentliche Ausgaben den Sozialstaat zu finanzieren und sich die öffentliche Zustimmung zu sichern. Das macht in Europa niemand mehr, nicht einmal das reiche Deutschland. ... Zweitens die eklatante Unterschätzung des Kulturschocks, den die großen Migrationswellen gerade bei den linken Bürgern ausgelöst haben. Also denen, die vorher die Letzten waren und sich jetzt als Vorletzte fühlen, als 'left behind' oder 'forgotten men', wie man heute sagt. Dieses Gefühl hat sich bei ihnen durch die digitale Revolution noch verstärkt, welche viele Berufe und viel Wissen obsolet gemacht hat.“
Die Schere wird immer größer
Die Italiener leiden insbesondere unter der wachsenden Armut und Ungleichheit, unterstreicht La Stampa:
„2014 haben wir endlich die Rezession hinter uns gelassen. ... Es wächst, wenn auch mäßig, nicht nur das verfügbare Einkommen, sondern auch die Kaufkraft. ... Also alles in Ordnung? Eben nicht. Denn das Einkommen ist vor allem für die mittleren und oberen Einkommensklassen gestiegen und ging einher mit einer wachsenden Ungleichheit. 2016 war das Einkommen der reichsten 20 Prozent der Italiener ganze 6,3-mal so hoch wie das Einkommen der 20 Prozent der ärmsten Italiener. ... Die Daten zur absoluten Armut sagen noch mehr: Sie hat sich 2012 verdoppelt und seitdem nie wieder abgenommen. Es ist erschreckend, wir sprechen hier von über 4,7 Millionen Menschen in absoluter Armut.“
Fehler der EU haben sich gerächt
Die Gründe für den Wahlausgang sind auch in der Natur der heutigen EU zu suchen, moniert Le Quotidien:
„Aus Sicht Italiens steht die EU für Verarmung und mangelnde Solidarität. Italien ist das am zweithöchsten verschuldete Land der EU. Entsprechend steht es unter dem Druck Brüssels, seine Sozialausgaben zu kürzen und Staatsbetriebe zu privatisieren und sich bloß davor zu hüten, seine Wirtschaft durch öffentliche Ausgaben anzukurbeln. … Es ist absolut keine Überraschung, dass die Italiener diese EU, die sie einst mitgegründet haben, nun offen ablehnen. Diese Entwicklung zeichnete sich vorher ab und wird sich in allen anderen Ländern wiederholen, solange Europa ein Symbol dafür bleibt, dass jeder für sich kämpft und nur die Interessen einiger weniger verteidigt werden.“
Paradoxe Abstiegsangst
Und der Deutschlandfunk sieht die EU am Zug, neben Erklärungsversuchen jetzt auch Lösungen zu finden:
„Merkels Grenzöffnung, die Globalisierung, die Abstiegsangst, das Gefühl, an der gesellschaftlichen Peripherie oder in der Provinz abgehängt worden zu sein - das alles mag erklären, warum einige den Populisten hinterherlaufen. Aber es erklärt eben nicht, warum viele Menschen Abstiegsangst empfinden, deren Status weniger bedroht ist als je zuvor. Warum sie die EU verteufeln, obwohl die ihren sozialen Aufstieg erst ermöglicht und obwohl nur sie einen Mindestschutz vor der Globalisierung bieten kann? Es ist Zeit, dass die Suche nach Antworten auf diese Fragen ins Zentrum aller europäischen Politik rückt. Sonst landet Europa womöglich dort, wo es hergekommen ist: in Trümmern.“