Italien steuert auf Neuwahl zu
Präsident Mattarella hat den proeuropäischen Ökonomen Carlo Cottarelli mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt. Zuvor war die Regierungsbildung zwischen Cinque Stelle und Lega gescheitert, weil Matarella sein Veto gegen die Einsetzung des Euroskeptikers Paolo Savona als Finanzminister eingelegt hatte. Was bedeuten mögliche Neuwahlen für Italien?
Kein italienischer Macron in Sicht
Stefano Folli, Experte für Innenpolitik bei La Repubblica, fragt besorgt, wer den Siegesmarsch der eurofeindlichen Parteien jetzt noch verhindern kann:
„In erster Linie sie selbst. Cinque Stelle ist auf dem besten Weg, sich in eine extremistische Sekte mit umstürzlerischen Allüren zu verwandeln, um ihre Schlappe (bei der Regierungsbildung] vergessen zu machen. Da wird der listige [Lega-Chef] Salvini rasch entscheiden müssen, ob er lieber mit Berlusconi oder Cinque Stelle ins Rennen geht. Ein Alleingang ist ausgeschlossen. In zweiter Linie bedarf es Euro-Begeisterte, um Euro-Skeptiker zu stoppen. Doch sind diese schwer auszumachen. In Frankreich stoppte Macron im vergangene Jahr Marine Le Pen, die französische Version von Salvini. ... Das Problem Italiens ist, dass sich leider am Horizont kein Macron abzeichnet, der eine neue Einheit schaffen könnte.“
Plebiszit über den Euro
Wie sich die EU schon jetzt wappnen muss, sollte Italien nach Neuwahlen aus dem Euro austreten, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Neuwahlen dürften zum Plebiszit über den Euro werden. Die Europäische Union wird dadurch nach dem Brexit einem weiteren ernsthaften Test ausgesetzt. Wichtig ist zunächst eine möglichst sachliche Diskussion in Italien über die Vor- und Nachteile der Gemeinschaftswährung für das Land. Wichtig ist sodann, dass die Regierungen der übrigen Euro-Staaten Optionen für einen geordneten Austritt Italiens aus dem Währungsverbund vorbereiten. Sie müssen sich überlegen, wie sie Italien im Falle eines Zusammenbruchs retten wollen - und ob sie das können.“
Lasst die Populisten regieren!
Die Lage in Italien ist nach der geplatzten Regierungsbildung noch gefährlicher, findet auch Rzeczpospolita:
„Wir sind erst am Anfang der italienischen Krise, die zu einer ernsthaften europäischen Krise werden kann. Ihr tatsächliches Ausmaß lernen wir wohl erst nach den Neuwahlen kennen, wenn die zwei populistischen Parteien, die jetzt von Mattarella aufgehalten wurden, noch mehr Unterstützung erhalten werden. Das Vorgehen des Präsidenten ist riskant. Er hat nicht das gesellschaftliche Mandat (Abgeordnete, Senatoren und die Delegierten der Regionen haben ihn gewählt) wie die beiden euroskeptischen Parteien, die die meisten Stimmen bei den Wahlen gewonnen haben. In den nächsten Wahlen kann der Zorn gegen das Establishment noch stärker werden. Die Populisten sollte man besser regieren lassen, solange sie noch nicht alle überzeugt haben. Wenn sie auf die Realität stoßen, werden sie gemäßigter.“
Produktivität steigern besser als Währung abwerten
Italien ist an seiner Wirtschaftskrise selbst schuld, kritisiert Die Presse und erinnert an die frühen 1970er Jahre:
„Deutschland zog in Sachen Wettbewerbsfähigkeit davon. Die anderen europäischen Länder standen vor der Entscheidung, ihre Position auf den Exportmärkten mit Währungsabwertungen zu verteidigen oder mit harten Strukturreformen in Sachen Produktivität zu Deutschland aufzuschließen. Italien entschied sich für Ersteres. In Österreich drückten Notenbank-General Heinz Kienzl (SPÖ), Finanzminister Hannes Androsch (SPÖ) und Notenbankpräsident Stephan Koren (ÖVP) die strikte D-Mark-Bindung durch. ... Den Unterschied kann man sich heute anschauen. Die Lehre daraus: Wer nicht abwerten kann, muss seine Wettbewerbsfähigkeit eben durch Produktivitätssteigerung verbessern. Das geht, wie wir gesehen haben. Und es ist ein Erfolg versprechender Weg.“
Bravo Mattarella!
Voll des Lobes für den Staatspräsidenten ist die Italien-Korrespondentin des Handelsblatts, Regina Krieger:
„Genau richtig hat er reagiert in dem Politik-Chaos, das seit Wochen Italien erschüttert, die Börsen auf Talfahrt jagt und die Nervosität an den Finanzmärkten steigen lässt. Er hat alle Möglichkeiten seines Amtes und der Verfassung genutzt und sein Veto eingelegt gegen einen möglichen Wirtschaftsminister, der bekennender Euro-Skeptiker ist. Mattarella hat die richtigen Worte und den richtigen Stil gefunden, um dieser gefährlichen wie dumpfen Rhetorik entgegenzutreten. ... Mattarella ist zu wünschen, dass sein von der Verfassung gewährtes Bollwerk standhält gegen anti-demokratische Anwürfe jenseits des guten Stils. Das ist für Italien noch wichtiger als die ökonomischen Probleme.“
Präsident schert sich nicht um Wählerwillen
Mattarella tritt demokratische Prinzipien mit Füßen, empört sich hingegen Mandiner:
„Die internationale Mainstream-Presse ist voll davon, dass die neuen Bewegungen, die als 'populistisch' bezeichnet werden, überall auf der Welt die Demokratie unterhöhlen, im Gegensatz zu den alten, liberalen Kräften, den Wächtern der Demokratie. Doch wie wollen wir es nennen, wenn der zur veralteten politischen Kaste gehörende Staatspräsident aus eindeutig politischen Motiven die Parteien bei der Regierungsbildung behindert, die von den Wählern dazu ermächtigt wurden, und die Ernennung von Ministern blockiert? Ist das nicht eine komplette Missachtung der Demokratie und des Wählerwillens? Stellen wir uns vor, ein 'populistischer' Staatschef würde die Regierungsbildung 'liberaler Demokraten' verhindern, weil ihm die Minister nicht gefallen. Was wären die Reaktionen darauf?“
EU-Eliten sind eigentliche Reformverhinderer
Der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung vorzuwerfen, sie würden die Weiterentwicklung der EU behindern, ist absurd, schimpft der Gründer der NGO European Alternatives, Lorenzo Marsili, in The Guardian:
„Die EU braucht eine rasche und tiefgreifende Reform. Doch ein unbekümmertes politisches Establishment ist darauf bedacht, alles so zu belassen, wie es ist, komme was wolle. Manfred Weber, der deutsche Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, kommentierte die Bemühungen zur Bildung einer neuen Regierung in Italien so: Die Reform der Eurozone sei nun aussichtslos. Damit wird den anderen die Schuld in die Schuhe geschoben. Dabei hat gerade Deutschland kein Interesse an einer europäischen Reform. Es sieht nun die Möglichkeit, jegliche Veränderung zu verhindern. ... Die Herausforderungen der heutigen Zeit verlangen Führungsstärke und Visionen - doch unsere Politiker schlafwandeln in den Abgrund.“
Ein letztes europapolitisches Gefecht
Als Sieger aus den tagelangen Querelen geht letztlich Lega-Chef Matteo Salvini hervor, erklärt Stefano Folli, Experte für Innenpolitik, in La Repubblica:
„Man wird nicht ohne Grund sagen, dass Salvini, im Gegensatz zu [Fünf-Sterne-Chef] Di Maio, es von Anfang an genau darauf angelegt hatte: Er hat nie an eine Koalition mit einem unsichtbaren Mann [Conte] als Premier geglaubt. Längst bereitete er sich auf Neuwahlen vor, über die Köpfe der Fünf Sterne hinweg, und unter dem Banner des 'Souveränismus'. Das ist der Grund, weshalb er keine Bereitschaft signalisiert hat, Savona mit dem weniger umstrittenen [Vize-Lega-Chef] Giorgetti zu ersetzen. … Die Neuwahlen werden zum letzten Gefecht zwischen entgegengesetzten Auffassungen von Europa, der EU-Mitgliedschaft, der Wirtschaftspolitik und somit der Rolle der Gemeinschaftswährung werden.“