50 Jahre nach dem Prager Frühling
In der Nacht zum 21. August 1968 beendeten Truppen des Warschauer Paktes die Demokratisierungsversuche des kommunistischen Systems in der Tschechoslowakei, die als Prager Frühling in die Geschichte eingingen. Die Auswirkungen des Einmarsches sind nach Ansicht von Kommentatoren bis heute sichtbar.
Schwieriges Gedenken
Die offizielle Gedenkveranstaltung vor dem Haus des Rundfunks in Prag wurde von Pfiffen gegen Premier Andrej Babiš überschattet. Für Hospodářské noviny war es nicht nur deshalb ein schwieriges Gedenken:
„Die Erinnerung an den 50. Jahrestag der Okkupation der Tschechoslowakei durch Armeen des Warschauer Pakts verlief - milde ausgedrückt - kontrovers. Der Präsident sagte nichts, um sich nicht bei Russland und den tschechischen Kommunisten anzubiedern. Hauptredner war der Premier, ein Mann, der vom Regime profitierte, das von sowjetischen Panzern unterstützt wurde. Kein Wunder, dass er massiv ausgepfiffen wurde. Jedwede würdevolle Erinnerung an die Opfer der Okkupation war da unmöglich.“
Historische Blaupause
Umfragen zufolge weiß die Hälfte der russischen Bevölkerung nicht, was vor 50 Jahren in der Tschechoslowakei geschah. Doch unter denen, die dazu eine Meinung haben, halten mehrheitlich den Einmarsch für richtig. Der Meinungsforscher Alexei Lewinson von Lewada-Zentrum erklärt in Wedomosti, warum das so ist:
„Erstens gilt der damalige Einmarsch als eine meisterhaft ausgeführte Militäroperation, die (fast) ohne Blutvergießen eine politische Aufgabe erfüllte. Und zweitens zog man die Lehre daraus, dass 'sie' uns nichts tun, egal was wir in dem Raum anstellen, den wir als 'unseren' betrachten: Der Erfolg mit Prag flüsterte uns ein, dass man nach Afghanistan und später nach Georgien einziehen kann. Das wurde mit der Krim wiederholt.“
Tschechen und Slowaken wurden zu Zynikern
Die bleierne Zeit der "Normalisierung" nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes macht sich bis heute in Tschechien und der Slowakei bemerkbar, rekapituliert Dennik N:
„Jede junge Generation braucht für ihre gesunde Entwicklung eine Art Rebellion gegen die Älteren. Das war bei uns in den 1970er Jahren nicht möglich. ... Unsere junge Generation lernte zwei Leben zu leben, ein privates und eines in der Öffentlichkeit. ... Diese Generation ist nun in der Demokratie an die Macht gekommen. Typisch dafür sind der tschechische Premier Andrej Babiš und der etwas jüngere slowakische Ex-Premier Robert Fico. Sie haben keine Vision, glauben an keine Werte, sind nur zynische Machtmenschen. Eine Lektion von 1968 lautet somit, dass die 'Normalisierung' mit ihren Lügen und ihrem Zynismus unser Leben bis heute verwüstet.“
Ende des "dritten Weges"
Mit dem Ende des Prager Frühlings wurde auch die Erwartung begraben, dass es möglich sei, die Mängel des Kapitalismus und die Begrenztheit des Sozialismus zu überwinden, konstatiert Právo:
„Das Ende des 'dritten Weges' sollte uns bekümmern. Auch die Konservativen und Liberalen. Es existiert nicht einmal eine theoretische Form von Wahlmöglichkeit mehr. Doch eine Demokratie ohne eine solche Wahl mutet tragikomisch an. Linke und Rechte, die sich um die Macht streiten, haben mehr, was sie eint als was sie unterscheidet. Diejenigen, die damit nicht zufrieden sind, werden per se als Populisten bezeichnet. Mit diesem Etikett endet jeder, der irgendeinen neuen 'dritten Weg' sucht. Doch wir wissen seit dem August 1968, dass es einen solchen Weg nicht gibt.“
Autoritarismus noch immer beliebt
Leider gibt es Länder in Osteuropa, die offenkundig wenig aus dem Prager Frühling gelernt haben, klagt Corriere del Ticino:
„Schauen wir uns zum Beispiel Ungarn an, wo mit dem Amtsantritt von Premier Orbán im Jahr 2010 eine neue und besorgniserregende Form des Autoritarismus begann. Orbán blendet einen Teil der ungarischen Bevölkerung mit national-populistischen politischen Rezepten und gefährdet so nach und nach die Grundfreiheiten, wie die der Meinungsäußerung und der Kritik an der herrschenden Macht. Wir befinden uns noch nicht auf dem Niveau der strengen Zeitungskontrollen, wie sie die kommunistischen Regime in der Zeit des Kalten Krieges handhabten, aber es fehlt nicht viel. Die Methoden sind unauffälliger als seinerzeit, aber das Ergebnis ist das gleiche.“
Europas Spaltung geht auf 1968 zurück
Die Ereignisse im Jahr 1968 erklären die heutigen Zerwürfnisse in Europa, analysiert der Historiker Stéphane Courtois in Le Figaro:
„Die Invasion am 21. August 1968 hat ein großes Paradox aufgezeigt: Während die sowjetischen Panzer die demokratischen Bestrebungen in Prag niederwalzten, sangen Tausende politisch ungebildete Studenten in Paris, Rom oder West-Berlin mit erhobener Faust die Internationale. Angestachelt von leninistischen, trotzkistischen und maoistischen Anführern sowie Guevara-Anhängern riefen sie nach einer kommunistischen Revolution, unfähig, deren totalitären Charakter zu erkennen. Dieser Bruch zwischen einem Teil der Jugend in den demokratischen und wohlhabenden Ländern und der Jugend in den Ländern, in denen die Kommunisten die Wirtschaftskraft und Freiheit zerstörten, bleibt einer der Gründe für die heutige Spaltung der Europäischen Union.“
Putin setzt Breschnew-Doktrin fort
An den Grundmotiven der Politik Moskaus hat sich seit 1968 nicht allzu viel verändert, bemerkt El Mundo:
„Sie wollten nicht nur den 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' beenden. Sie wollten vor allem ihren Lebensraum markieren und eine Botschaft an künftige abtrünnige Nationen aussenden. ... Von den offensichtlichen historischen Unterschieden abgesehen behält Putins Politik Ähnlichkeiten mit der von Breschnew. In seiner Versessenheit darauf, die Macht des verlorenen Imperiums zurückzugewinnen, handelt Russland 50 Jahre später so, als ob der sowjetische Einflussbereich noch immer bestünde, indem es die Demokratisierung vieler Länder verhindert und in andere sogar einmarschiert, wie im Fall der Ukraine und Georgien.“