Chemnitz: eine polarisierte Stadt
Nach den Krawallen rechtsextremer Demonstranten in Chemnitz infolge des gewaltsamen Tods eines 35-jährigen Deutsch-Kubaners wird weiter über Fremdenfeindlichkeit in Deutschland diskutiert. Wie konnte sich die Stimmung in Chemnitz so aufheizen und was sind die Ursachen für die Krawalle?
Zu einem Besuch lässt sich Merkel nicht herab
Medien und Politik haben eine falsche Sichtweise auf die Ereignisse in Chemnitz, kritisiert Mladá fronta dnes:
„Nachdem die Bürger auf die Straße gegangen waren, wurden sie von den deutschen und nach deren Vorbild von der Mehrheit der westlichen Medien als Radikale, Nationalisten und Neonazis bezeichnet. Auch die Kanzlerin fühlte weniger das Bedürfnis, ihr Mitgefühl auszudrücken, als sich an die Seite der muslimischen Migranten zu stellen. Schon gar nicht kam ihr die Idee, Chemnitz zu besuchen. Und das alles nur, weil es die derzeitige politische Elite ablehnt, den verärgerten Bürgern ihres eigenen Landes in die Augen zu sehen.“
Politisch korrekte Vereinfachungen
Für das Ausmaß der rechten Aufmärsche in Chemnitz sind die Medien mitverantwortlich, meint auch der Kurier:
„Sie tragen gerade in den letzten Tagen (un-)freiwillig das Ihre zur Anti-Stimmung bei. Denn nicht jeder, der in Sachsen auf Seiten des Radaus marschiert, ist ein Nazi. ... Nicht alle, denen vor drei Jahren unter dem Titel 'Flucht vor dem Krieg' geholfen wurde, waren Lämmer. Wenn man sich darauf verständigt, wenn man die Unzufriedenen nicht dämonisiert, wenn man hinschaut auf die Probleme, statt sie in vermeintlicher political correctness wegzudenken (und -schreiben), verhindert man vielleicht, dass der Mob weiter grast, wo kein Platz für ihn sein dürfte. Denn der ist in einer kleinen, vulgären Ecke am Rande der Gesellschaft.“
Preußischer Kolonialgeist wirkt weiter
Die Furcht vor dem Fremden ist in den ostdeutschen Gebieten des früheren Preußens, wo Deutsche und Slawen jahrhundertelang um die Vorherrschaft rangen, historisch tief verwurzelt, analysiert The Guardian:
„Die unterschwellige Angst vor einem stets gegenwärtigen und potenziell feindlichen Anderen in der eigenen Umgebung durchdrang alle Regionen in Ostelbien, wie es Max Weber, der Gründer der Soziologie, bezeichnete. Das führte - so wie in den US-Südstaaten, wo Sklavenbesitz erlaubt war, in Französisch-Algerien oder in Nordirland - zu einer Tradition, in der die 'benachteiligten Weißen' eine starke politische Führung forderten und sich dieser unterwarfen. Damit sollte jeglicher mögliche Aufstand durch Ureinwohner schnell niedergeschlagen werden können. Es war diese archetypische Kolonialpolitik, die Preußen stets vom Rest Deutschlands unterschied.“
Deutsche Nazis haben sich herausgeputzt
In Sachen Vergangenheitsbewältigung gilt Deutschland vielen Spaniern als Vorbild. Allerdings darf man darüber nicht vergessen, dass auch dort die faschistische Ideologie nicht ausradiert wurde, meint eldiario.es:
„Die Maßnahmen, um die Überbleibsel des Dritten Reichs zu beseitigen und dessen Opfer zu entschädigen, wurden dort seit vielen Jahren und mit größerer Intensität betrieben. Wer deswegen aber behauptet, Deutschland sei 'entnazifiziert' worden, läuft Gefahr, eine bittere Wahrheit zu verschleiern: Der Nazismus ist nicht aus der deutschen Gesellschaft verschwunden. Er hat sich gewandelt, er wurde umgedeutet, er hat sich herausgeputzt. Die Bilder von Hakenkreuz-Skinheads, die den Arm zum Hitlergruß erheben, wurden in vielen Fällen durch Anzugträger mit Krawatten und freundlichen Gesichtern ersetzt.“
Fremdenhass hat nicht nur wirtschaftliche Gründe
Rein ökonomische Erklärungen für den Rechtsextremismus greifen zu kurz, gibt das Handelsblatt zu bedenken:
„Denn dann müsste in Norddeutschland der Anteil an AfD-Wählern höher sein als im Süden. Es ist aber umgekehrt: Im Osten liegt er im reichen Sachsen am höchsten, im Westen im reichen Bayern. ... Gerade weil die Bundespolitik seit der Wiedervereinigung so ausschließlich auf die Wirtschaft fixiert war, hat sie den Riss wohl übersehen, der immer tiefer geworden ist zwischen weltoffenen Modernisierern, die alles Neue, einschließlich Zuwanderern, erst einmal interessant finden, und stark Heimatverbundenen, die sich überfordert fühlen durch zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit. ... Umso wichtiger wäre das Engagement der etablierten Parteien, gegen das Gefühl von Vernachlässigung vorzugehen.“
Paradoxer Ausländerhass
Dass es ausgerechnet in Sachsen vermehrt zu ausländerfeindlichen Angriffen kommt, findet auch 24 Chasa paradox:
„Die rechtsextreme Szene in Ostdeutschland interessiert sich offenbar nicht für Fakten. Sie protestiert gegen die Aufnahme von Ausländern und Flüchtlingen, obwohl der Ausländeranteil in Chemnitz bei gerade einmal sieben Prozent liegt und der Anteil der Flüchtlinge bei circa zwei Prozent. Es gibt keine wirtschaftlichen Gründe, die Zugewanderten zu hassen. Die Arbeitslosigkeit sinkt seit Jahren und die Stadt gehört bei weitem nicht zu den ärmsten in Deutschland. Wegen des geringen Ausländeranteils können die Einwohner auch nicht über Schulen oder Kindergärten klagen, in denen kein Deutsch gesprochen wird. Einen Zusammenprall der Kulturen gibt es hier nicht. Doch gerade das ist paradoxerweise einer der Gründe für den wachsenden Rassismus in der Region.“
Dumme deutsche Migrationspolitik
Kanzlerin Merkel ignoriert ihren eigenen Anteil an den Ereignissen in Chemnitz, findet Právo:
„Merkel und der ganzen politischen und medialen Elite in Deutschland hilft es nicht, nur die zu kritisieren, die vom Versagen des Rechtsstaats unter Führung der Kanzlerin in der Migrationskrise zu profitieren versuchen. Die Ereignisse in Chemnitz sind nur das letzte Glied in der Kette, die von der deutschen Machtelite mit ihrer unglaublich dummen Migrationspolitik geschmiedet wurde. Vor dieser Tatsache verschließt Berlin die Augen. ... Angesichts des offenkundigen Scheiterns ihrer Migrationspolitik laviert Merkel nur, um sich noch ein bisschen an der Spitze zu halten.“
Verständlicher Protest gegen Massenzuwanderung
Nicht alle, die demonstrieren, sind Rechtsextremisten, meint The Times:
„Menschen haben ein Recht darauf, in Gesellschaften leben zu wollen, die sich mit einem gemeinsamen Erbe und gemeinsamen Zielen identifizieren. Doch das wird heute von der politischen Mitte als rassistisch, 'nativistisch' und unzulässig eingestuft. ... Einige Unterstützer [nationaler Protestbewegungen] mögen von Rassismus und antimuslimischen Vorurteilen geleitet sein. Anders gesagt, es kann sein, dass sich Rassisten, Faschisten und Fanatiker jenen Enttäuschten anschließen, die den legitimen Wunsch haben, die westliche Kultur zu bewahren. Doch die Beweggründe von Letzteren sind nicht die gleichen. Millionen von Menschen wollen eine westliche nationale Identität verteidigen, die auf Toleranz, Freiheit und gleichem Recht für alle basiert. Diese Werte sind durch Massenzuwanderung und Multikulturalismus bedroht.“
Ostdeutsche haben Demokratie nicht gelernt
Dass es zu den Ereignissen in Chemnitz kommen konnte, erklärt sich Jyllands-Posten vor allem aus der ostdeutschen Geschichte:
„Mehr als 50 Jahre lang herrschte Diktatur - erst die Nazi-Diktatur, dann die kommunistische. Die Ostdeutschen hatten im Gegensatz zu den Westdeutschen keine freundliche Besatzungsmacht, die ihnen Demokratie und Pluralismus beibringen konnte - sie hatten die Russen. ... Fatalerweise ist auch nach dem Mauerfall nicht allzu viel passiert, was die Erklärung von Demokratie und Rechtsstaat angeht. Selbst die Polizei pflichtet oft reflexartig den Extremisten bei. ... Unter anderem der Bundespräsident und die Kanzlerin haben sich in den letzten Tagen richtig und klug geäußert. Nun muss das Problem vor Ort mit Berlins Hilfe angegangen werden. Man kann jedenfalls nicht länger behaupten, es existiere nicht.“
Fremdenhass wird durch Armut genährt
Der Aufmarsch in Chemnitz sollte ganz Europa wachrütteln, warnt El Periódico de Catalunya:
„Der Kampf gegen diejenigen, die den Hass schüren, betrifft nicht nur Deutschland sondern ganz Europa. Die Rechtsradikalen füllen das Vakuum aus, das die EU-Institutionen verursachten, als sie keine vernünftige gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise fanden. Es ist wichtig zu wiederholen, dass die Zahl der Neuankömmlinge seit zwei Jahren sinkt. Die Migration ist nicht das Problem, sondern der Mangel an Mitteln für die Aufnahme sowie die Verarmung großer Teile der europäischen Bevölkerung. Der Fremdenhass wird durch wirtschaftliche Unzufriedenheit genährt. ... Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Migration ist nur der Vorwand. Was in Europa auf dem Spiel steht, sind die Rechte und die Freiheiten.“
Antifaschistische Traditionen neu beleben
Ostdeutschland sollte sich auf seine Tradition des Antifaschismus zurückbesinnen, meint der Deutschlandfunk:
„Kluge Beobachter haben angemerkt, dass man vor allem bestimmte Jahrgänge - grob gesagt: etwa 40- bis 50-Jährige sieht; das wären möglicherweise dann die gleichen, die bei den Ausschreitungen der 1990er-Jahre als junge Leute auftraten: Handelt es sich womöglich um eine für die Demokratie verlorene Generation? Und wäre es dann eine Überlegung, bei den Älteren, der Rentnergeneration, an ein Erbe anzuknüpfen, das in den 1990ern von Helmut Kohl ganz unnötig plattgetrampelt wurde - nämlich die antifaschistische Tradition der DDR? ... Als Import aus dem Westen werden schlaue Ideen in Sachsen wohl kaum gebraucht. Es sind die Demokratinnen und Demokraten von vor Ort, die jede Solidarität und Unterstützung brauchen, um die Stimmung auf den Straßen auch in Chemnitz wieder zu verändern.“
Versagen des Rechtsstaats
Die Vorkommnisse in Chemnitz sind ein ernstes Problem für Deutschland, findet die Berlin-Korrespondentin von Helsingin Sanomat, Anna-Liina Kauhanen:
„Wenn Rechtsradikale auf die Straßen strömen und ausländisch aussehende Menschen jagen, um sie zu misshandeln, geht es nicht mehr nur um ein zugespitztes Diskussionsklima. ... Das Außergewöhnliche in Chemnitz ist, dass die rechtsradikalen Demonstranten bereit waren, Grundrechte zu brechen und Gewalt gegen Menschen aufgrund ihres Aussehens auszuüben. Wenn Bürger auf Rachefeldzüge gehen und Menschen lynchen wollen, die sie für Ausländer halten, hat der Rechtsstaat versagt und ist in einer schweren Krise.“
Vorsicht mit dem Nazi-Begriff
Trotz der pogromartigen Szenen in Chemnitz hält die Neue Zürcher Zeitung es für problematisch, die Demonstranten pauschal als Nazis zu bezeichnen:
„Die AfD-Führung pflegt eine schrille, oftmals dumpfe Sprache, und sie zeigt eine erstaunliche Toleranz gegenüber den vielen Wirrköpfen in der Partei. Es kann gut sein, dass sie sich weiter radikalisiert. Aber sie ist - noch - nicht extremistisch. Die Gewalt von Chemnitz hat sie verurteilt. Der Begriff 'Nazi' ist im Deutschen nicht steigerungsfähig. Er markiert das Ende jedweder Gemeinschaft. Denn was soll man mit einem Nazi noch besprechen? Er gehört bekämpft, und das mit allen Mitteln. Das ist die Lehre der Geschichte. Wer die Sachsen als Nazis und als Nazi-Kollaborateure beschimpft, drückt damit aus, dass er sie nicht nur als Mitbürger aufgegeben hat, sondern am liebsten wegsperren würde.“
Hoher Preis der Menschenliebe
Über die Hintergründe der Ausschreitungen in Chemnitz schreibt Delo:
„Als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die Grenze für die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg geöffnet hat, hat sie wohl nicht mit so vielen Problemen zwischen den Einwanderern und der heimischen Bevölkerung gerechnet. Der Andrang der Menschen aus religiös und kulturell fremden Regionen hat vor allem den Osten Deutschlands erschüttert. Man kann vielleicht verstehen, dass die Politik der deutschen Mitte 2015 nicht auf die Massen, die über die Balkanroute auf ihre Grenzen zuströmten, vorbereitet war. Doch für ihre Menschenliebe zahlt sie einen hohen Preis. Es war die Flüchtlingskrise, die die nationalistische AfD zur drittgrößten Partei im Land gemacht hat.“
Multi-Kulti-Ideologie führt zu Gewalt
Die Krawalle in Chemnitz sind auf eine fehlerhafte Politik der Konservativen zurückzuführen, kritisiert Wpolityce.pl:
„Die Ideologie des Multikulturalismus und der Offenheit für Minderheiten erleidet vor unseren Augen eine Niederlage. Nicht nur, dass sie die Gesellschaft nicht vor Extremismus schützt, sie kann ihn durch ihre Unfähigkeit zur Selbstkorrektur gar hervorrufen. Auch die Warnsignale, die seit einigen Jahren aus den östlichen Bundesländern kamen, dass dort nationalistische Gruppierungen stärker werden, haben nichts bewirkt. Sie haben die Politiker der nominell konservativen CDU nicht zu der Erkenntnis gebracht, dass eine neue Strategie notwendig ist. ... Im Gegenteil: Man war der Meinung, dass die einzige Medizin noch mehr Indoktrination ist, noch mehr des politisch korrekten Breis, noch mehr Willkommenspolitik.“
Merkel muss ins Katastrophengebiet reisen
Was sollte der Rechtsstaat gegen den fremdenfeindlichen Mob tun?, fragt die taz:
„Außer der Aufklärung und Ahndung begangener Straftaten wäre eine weitere Antwort auf diese Frage, dass Angela Merkel nach Chemnitz fährt. Dass ihr Innenminister nach Chemnitz reist. Ihre Justizministerin. Dass sie sich vor Ort ein Bild machen, um daraus Schlüsse für ihr politisches Handeln zu ziehen. ... Man darf und man soll fragen, was angemessen ist. Muss Angela Merkel neuerdings zu jeder Kirmeskeilerei eilen, deren die Polizei nicht Herr wird? Nein. Aber zahlreiche Kommunen, ganze Regionen in Ostdeutschland drohen gerade zu einem Katastrophengebiet der Demokratie zu verkommen. Und in Katastrophengebiete sollten PolitikerInnen reisen und fragen, wie sie helfen können. Tun sie das nicht, kommen andere.“
Sächsische CDU sieht Feinde nur links
Die sächsische CDU hat den Rechtsextremismus in ihrem Bundesland viel zu lang ignoriert, kritisiert Der Standard:
„Die Sachsen seien 'immun' gegen Rechtsradikalismus, hat der frühere Ministerpräsident Kurt Biedenkopf einmal gesagt. Offenbar gilt das heute - trotz ebenso ausreichender wie bedauerlicher Gegenbeweise - in der CDU immer noch. Der 'Feind' wird links gesehen, nicht rechts. Dass in diesem Klima das rechte Spektrum immer stärker wird, verwundert nicht. Es wäre jetzt Zeit für klare Worte aus der sächsischen CDU. Schweigen und sich ducken - aus Angst vor der AfD - ist ein falscher und schändlicher Weg.“