Schwedens Parteienlandschaft im Umbruch
In Schweden sind die traditionell starken Sozialdemokraten zwar stärkste Partei geblieben, kamen jedoch auf das schlechteste Ergebnis seit 1911. Auch die konservativen Moderaten verloren Stimmen, während die rechtsnationalen Schwedendemokraten 4,7 Prozentpunkte zulegten. Kommentatoren suchen nach Gründen für die Verluste der etablierten Parteien und sehen im Wahlergebnis ein Menetekel für die Europawahl.
Machtmonopol für immer verloren
Die glorreichen Jahre der Sozialdemokratie in Schweden gehören für Dagens Nyheter der Vergangenheit an:
„Die politische Mitte ist dünner geworden und wird von antiliberalen Kräften angegriffen. Das macht es schwieriger, Mehrheiten zu bilden und Länder zu regieren. Für große Koalitionen und blockübergreifende Kooperationen ist es problematisch, wenn alle Parteien des Establishments gleich aussehen. Am meisten trifft es jetzt die Sozialdemokraten in Schweden, die es jahrzehntelang gewohnt waren, zu entscheiden und Weichen zu stellen. Warnsignale wurden wie nervende Fliegen weggewedelt. Die Sozialdemokraten brauchen eine neue Idee. Die Tage des Machtmonopols sind für immer vorbei.“
Gefangen in der Visionslosigkeit
Worauf die Krise der Sozialdemokratie, nicht nur in Schweden, sondern in ganz Europa, zurückzuführen ist, erklärt Der Standard:
„Was die Sozialdemokratie in Europa eint, ist die Tatsache, dass sie nicht mehr genau sagen kann, wofür sie inhaltlich eigentlich steht. Viele sozialdemokratische Forderungen von einst sind heute längst erfüllt. Praxisrelevante Antworten auf die rasanten Veränderungen der Gesellschaft bleibt man schuldig. Was ist ein originär sozialdemokratischer Kurs in der aktuellen Wirtschaftspolitik, in der Europapolitik, bei Fragen der Zuwanderung? Wo sind die Gegenkonzepte zu neoliberalen Exzessen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst haben? Wo sind die Parteirebellen mit der Kraft zu einer grundlegenden Erneuerung?“
Wohlfahrtsstaat in der Krise
Für Corriere del Ticino manifestieren sich vor allem soziale Probleme im Wahlergebnis:
„Die Daten zeigen, dass die soziale Ungleichheit in Schweden in den vergangenen 30 Jahren stärker als in jedem anderen Industrieland zugenommen hat. Die Mittelschicht, die einst zu den wohlhabendsten der Welt gehörte, ist verarmt. Trotz einer florierenden Wirtschaft und niedriger Arbeitslosigkeit sind Haushaltsprobleme und Kürzungen, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen, an der Tagesordnung. Parallel dazu altert die Bevölkerung. Schweden ist traditionell ein aufnahmefreundliches Land, doch die hohe Anzahl der Einwanderer, die die nationale und kulturelle Identität des Landes zu untergraben droht, schädigt diese Tradition.“
Vorgeschmack auf Europawahl
Die Parlamentswahl in Schweden ist ein Abbild dessen, was im Frühjahr 2019 dem ganzen Kontinent bei der Europawahl droht, glaubt Hospodářské noviny:
„Die Parteien der linken und rechten Mitte verlieren Wähler, die Extremen legen zu. Vor allem das Thema Migranten polarisiert immer mehr. Wobei die Schweden auch jetzt Menschen in Not ihre Hilfe nicht verweigern würden. ... In Schweden zeigte sich vor allem ein Problem: 41 Prozent der Wähler - so viel, wie nie zuvor - wechselten im Vergleich zur letzten Wahl ihre Präferenz und wählten eine andere Partei. Die schwedische Lektion lautet somit weniger, wie viele Stimmen populistische Nationalisten bekommen können. Es zeigt sich mehr, wie instabil das traditionelle europäische Parteiensystem geworden ist.“
Große Koalition wünschenswert
Expressen ermahnt die Sozialdemokraten und die stärkste bürgerliche Kraft, die konservativen Moderaten, aufeinander zuzugehen:
„Vieles spricht für eine bürgerliche Regierung, falls die Allianz die Mehrheit hat. Sie hätte bessere Voraussetzungen, von den Schwedendemokraten geduldet zu werden. Aber eine Regierung aus Sozialdemokraten und Moderaten hätte noch bessere Voraussetzungen. ... Anstatt erneut die kleinen Parteien wie Grüne, Zentrum, Liberale und Christdemokraten die Migrationspolitik diktieren zu lassen, sollten die staatstragenden Parteien die Verantwortung übernehmen, damit wir eine nachhaltige Flüchtlingspolitik bekommen und somit Recht und Ordnung wieder hergestellt wird. In dieser Situation kann das Undenkbare plötzlich das politisch Mögliche werden.“
Sozialdemokraten haben Rechten das Feld überlassen
Die Sozialdemokraten sind selbst an ihrem schlechten Ergebnis schuld, findet Delo:
„Schließlich haben sie mit einigen umstrittenen Entscheidungen die Führung der politischen Agenda fast vollkommen der Opposition überlassen. Zumindest während des Wahlkampfs, der von Fragen der Politik der offenen Grenzen, der Integration der Zuwanderer und der Sicherheit dominiert wurde - also von den Lieblingsthemen der rechtsextremen Schwedendemokraten. Auch die anderen traditionellen Parteien, die nicht in der Lage sind, eine alternative Agenda zu ihren Gunsten zu formulieren, sind mit dem Problem konfrontiert. Als führende Partei riskieren jedoch die Sozialdemokraten in diesem Prozess am meisten zu verlieren.“
Etablierte Parteien vor Angst gelähmt
Sozialdemokraten und Moderate hätten mit Blick auf ihre Nachbarländer wissen müssen, was passiert, wenn man die Themen der Rechtspopulisten kopiert, kritisiert der Tages-Anzeiger:
„Man bestätigt sie, aber stiehlt ihnen keine Wähler. In Schweden bekommen das Sozialdemokraten und Moderate gleichermaßen zu spüren. ... Sie haben vergessen, was ihre eigenen Wähler wollen: Antworten darauf, wie Schwedens Sozialstaat in Zukunft aussehen soll, was Rente, Schulen und Krankenhäuser angeht. Sie wollten keine einfachen Antworten, sondern Alternativen. Deswegen haben kleine Parteien wie die Linken und die Zentrumspartei wohl so gut abgeschnitten. Die anderen haben vor lauter Schrecken über den Erfolg der Rechten ihre Wähler unterschätzt.“
Absage an liberale Zuwanderungspolitik
The Spectator glaubt, dass den Sozialdemokraten vor allem ihre Migrations- und Asylpolitik zum Verhängnis wurde:
„Es war Regierungschef Stefan Löfven, der 2015 Schwedens Grenzen offen hielt, und zwar für alle, die es bis dorthin schaffen. Seine Entscheidung führte dazu, dass die Bevölkerung seines Landes seit damals um mindestens zwei bis drei Prozent zugenommen hat. Löfven war nicht gezwungen, so zu entscheiden. Er hätte auch den Weg Norwegens oder Dänemarks wählen können. Diese beiden Nachbarländer verfolgten eine viel klügere Zuwanderungspolitik - und man kann wohl kaum behaupten, dass sie in Barbarismus abgeglitten wären. Doch Löfven entschied sich bewusst gegen diesen Weg und setzte stattdessen die Zukunft seines Landes aufs Spiel.“
Europas Gretchenfrage
Die Rechtsnationalen ausgrenzen oder einbinden? Das ist für den Brüssel-Korrespondenten von La Repubblica, Andrea Bonanni, die Frage, vor der Europa steht:
„Auf der einen Seite gibt es Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Belgien, in denen die traditionellen demokratischen Parteien geschlossen jedes Bündnis mit Kräften ablehnen, die die Grundwerte des europäischen Liberalismus nicht teilen. ... In Italien, aber auch in Griechenland, Österreich und Finnland wurde die rechtspopulistische, nationalistische und fremdenfeindliche Rechte hingegen von den Mehrheitsparteien in die Regierung eingebunden, in der mehr oder minder berechtigten Hoffnung, sie so unter Kontrolle halten zu können. ... Wird sich nun die Logik der Ausgrenzung durchsetzen, wonach einige der Grundwerte der europäischen Demokratien nicht verhandelbar sind? Oder wird sich die Logik der Einbindung durchsetzen?“