Orthodoxe Kirche vor der Spaltung
Nachdem die russisch-orthodoxe Kirche den Bruch mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel verkündet hat, ermahnte sie ihre Gläubigen bereits, nicht mehr in den Konstantinopler Kirchen zu beten. Die russisch-orthodoxe Kirche reagierte damit auf die Loslösung der ukrainisch-orthodoxen Kirche, die von Konstantinopel erlaubt wurde. Für Kommentatoren bietet der Konflikt jede Menge geopolitischen Sprengstoff.
Die Machtfantasien des Bartholomäus
Bartholomäus I. möchte nicht nur die orthodoxe Kirche in der Ukraine von ihrer Mutterkirche in Russland, sondern auch die in Mazedonien von ihrer Mutterkirche in Serbien unabhängig machen. Das liegt aber gar nicht in seiner Macht, kritisiert Kirchenrechtsexperte Borislaw Tsekow in Trud:
„Laut Kanon gibt es sowohl für die ukrainische als auch für die mazedonische Kirche nur einen Weg zur Autokephalie: Wenn sowohl die Mutterkirche als auch alle anderen orthodoxen Kirchen damit einverstanden sind. Mit seinen einzelgängerischen Aktionen fügt Bartholomäus der Einigkeit und der konzilartigen Führung der Heiligen Orthodoxie einen schweren Schlag zu. Hinter seinen Handlungen stecken Machtfantasien und geopolitische Überlegungen, die gegen das Kirchentum und somit auch gegen das Christentum verstoßen.“
Kiews Revanche für die Krim
Kommentator Anton Orech von Echo Moskwy sieht in der von der Ukraine vorangetriebenen Kirchenspaltung eine Antwort auf Russlands Aggressionen:
„Die Autokephalie ist eine schwere Niederlage Putins. Und der einzige mögliche Gegenschlag der Ukraine. Die Ukraine kann sich weder die Krim noch den Donbass zurückholen, sie kann gegen Russland militärisch überhaupt nicht bestehen. … Doch der Russisch-Orthodoxen Kirche die Herrschaft über die kirchlichen Territorien abnehmen, das ist nicht weniger geil als die Krim heimholen. Das ist eine Frage von solchem Maßstab, dass man noch tausend Jahre lang diesen Brei auslöffeln wird. Der geeinte kirchliche Raum schuf, so dämlich das klingt, eine gewisse Illusion vom Fortbestand der UdSSR. Die Bolschewiken haben die Kirche vernichtet, doch letztlich war es so, dass die gemeinsame Kirche das einzige war, was uns formell noch verband.“
Nationale Kirche passt nicht zur Ukraine
Für wenig zeitgemäß hält eine Autokephalie der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche der Politologe Radu Carp. Er schreibt in seinem Blog bei Adevărul:
„Das Streben der politischen Elite von Kiew nach einer 'ukrainischen nationale Kirche' ist ein strikt politischer Schritt, mit dem sich Präsident Poroschenko an der Macht halten will. Die Ukraine besteht nicht nur aus einer Ethnie (ukrainisch) und einer Konfession (orthodox). Sie ist multi-ethnisch und multi-konfessionell. Kann heutzutage einer Kirche die Autokephalie einfach auf der Basis der Idee zugesprochen werden, dass ein neuer Staat entstanden ist, in dem eine Mehrheitsnation lebt, die mehrheitlich eine Konfession hat? ... Die zögerliche Haltung der anderen Orthodoxen Kirchen auf der Heiligen Synode [2016] auf Kreta zum Problem der Autokephalie zeigt, dass man auf diese Frage noch keine einvernehmliche Antwort hat.“
Braucht Putin einen neuen Krieg?
Polityka sieht eine russische Kampagne gegen die Ukrainisch-orthodoxe Kirche im Gange und wittert dahinter innenpolitisches Kalkül des Kreml:
„In Russland gibt es viele Stimmen, die sagen, dass angesichts der Probleme Wladimir Putins und seines Systems ein neuer Krieg notwendig und möglich ist. Für dieses Szenario werden Bilder der gewaltsamen Übernahme von Heiligtümern sowie Blutvergießen in orthodoxen Kirchen in der Ukraine benötigt. Solche Visionen formuliert Patriarch Kyrill bereits in den russischen Medien. Die Moskauer Medien weisen darauf hin, dass die 'ukrainischen Faschisten' bereits Waffen aus den Vereinigten Staaten erhalten hätten, und dass hinter Patriarch Bartholomäus das US-Außenministerium stehe, das diese russlandfeindliche Intrige seit Jahren vorbereitet habe.“
Christenheit vor der dritten großen Spaltung
Der Bruch mit Konstantinopel könnte zu einer historischen Spaltung der orthodoxen Christenheit führen, prognostiziert Echo Moskwy:
„Der 15. Oktober 2018 könnte in die Weltgeschichte eingehen: als Tag des Beginns des dritten großen Schismas. Vergleichbar mit dem 16. Juli 1054, der die Christen in eine Ost- und eine Westkirche spaltete und dem 31. Oktober 1517, der die westliche Christenheit in Katholiken und Protestanten teilte. Als Startschuss der neuen Kirchenspaltung dürfte die heutige außerordentliche Sitzung der Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche gelten, der 'adäquat und hart' auf die Entscheidung der Synode des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel vom 11. Oktober reagieren wollte.“
Schwerer Schlag für Putins Expansionspolitik
Die drohende Abspaltung der ukrainischen Kirche verringert den Einfluss Moskaus, analysiert Financial Times:
„Wenn der Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus I., der Kirche in Kiew im November wie erwartet offiziell die Eigenständigkeit zugesteht, dann wird das einen großen Auftrieb für die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung bedeuten. Die Chancen für Poroschenko, im kommenden Mai als Präsident wiedergewählt zu werden, könnten sich stark erhöhen. Er hatte sich für die religiöse Unabhängigkeit Kiews eingesetzt. ... Zugleich wird der Verlust des ukrainischen Patriarchats Russlands Einfluss in der östlichen Orthodoxie stark schwächen. ... Dieser Verlust wird offenbaren, wie sehr Putins Politik nach hinten losging, indem er einen Keil zwischen Ukrainer und Russen trieb.“
Eine Bestrafung Russlands
Die Hybris der Russisch-Orthodoxen Kirche wurde bestraft, freut sich Lietuvos žinios:
„Nach dem Treffen zwischen Patriarch Kyrill und Papst Franziskus im Jahr 2016 jubelte die Propaganda-Maschine des Kreml, dass sich die mächtigsten Führer der beiden Kirchen getroffen haben. Als wäre der Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus weniger wichtig und Moskau das Weltzentrum der Orthodoxie. Doch dieses Verhalten hatte Konsequenzen. Die ukrainischen Orthodoxen machen fast die Hälfte der Gläubigen im Moskauer Patriarchat aus. Es ist unklar, wie viele der Gläubigen nun in die von Konstantinopel anerkannte ukrainisch-orthodoxe Kirche [des Kiewer Patriarchat] übertreten, doch das Moskauer Patriarchat ist klar geschwächt. Und damit hat auch Putin etwas weniger Spielraum bei seinen Versuchen, die Religion für seine imperialistische Politik zu instrumentalisieren.“
Kirchenkonflikt wird zu russischer Staatsräson
Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow fürchtet in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post, dass der Kreml den Kirchenkonflikt politisieren wird:
„Was macht es im 21. Jahrhundert für einen Unterschied, wem sich Leute in Kostümen nach der Mode eines vor einem halben Jahrtausend untergegangenen Imperiums unterordnen? Ich würde das ignorieren - gäbe es nicht ein 'aber': Die Staatsmacht wird diese Autokephalie, so fürchte ich, gegen uns alle einsetzen. Warum? Putins Beliebtheitswerte sind eingebrochen, der Krieg mit der Ukraine befindet sich am Gefrierpunkt, Trump ist definitiv nicht unser Fall und der Sport stinkt nach Urin. Wo, wenn nicht in der Kirche, kann man nun die nächsten Reserven für die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung finden? Deshalb ist mit einer verstärkten Klerikalisierung zu rechnen.“
Drohgebärden aus Moskau
Die Reaktion Moskaus wird die gesamte orthodoxe Welt erschüttern, meint Evenimentul Zilei:
„Moskau hat bereits mit einem vollständigen Schisma gedroht, mit einem Bruch der kirchlichen und eucharistischen Beziehungen zum Ökumenischen Patriarchat. Auch kündigte Moskau einen totalen Kirchenkrieg in der Ukraine an, wo seine Priester und Gläubigen sich der Abtretung ihrer Eigentümer widersetzen werden. … Glaubt man den Worten des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, die sich [am heutigen Montag] zur heiligen Synode in Minsk treffen wird, um Maßnahmen zu ergreifen, so steht nun nicht nur die ukrainische Orthodoxie, sondern die gesamte Glaubensgemeinschaft unter Druck. Sie scheint von einer ähnlichen Spaltung bedroht wie 1054 [damals trennten sich orthodoxe und katholische Kirche].“
Washington will die UdSSR endgültig zerstören
Dserkalo Tyschnja glaubt, dass Washington das Ökumenische Patriarchat in seinen Bestrebungen unterstützt:
„Die Ukraine ist [für das Ökumenische Patriarchat] kein schlechter Startplatz: Es gibt einen Konflikt, den niemand lösen will, Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Kirchenzentrum [Moskau], den politischen Willen der Landesführung, die bereit ist zum situativen Verbündeten zu werden, und eine kritische Masse an 'unbeaufsichtigten' Gläubigen. ... Hinzu kommt das geopolitische Interesse an einem endgültigen Zerfall der UdSSR. Ja, in Moskau haben sie vollkommen Recht: Das Projekt der 'Autokephalie' wird vom 'Washingtoner Obkom' [in etwa: 'Washingtoner Gebietsausschuss', pejorativer Ausdruck, der die Einmischung der USA in die Politik postsowjetischer Staaten suggeriert] unterstützt, der endlich erkannt hat, wie wichtig der Bereich der Kirche in der slawischen Geopolitik ist.“
Warum in Russland Panik aufkommt
In Russland herrscht die blanke Angst angesichts der anstehenden Kirchengründung, schreibt der regierungsnahe Politologe Kostjantyn Matwijenko in Ukrajinska Prawda:
„Die Hysterie der Führung der russisch-orthodoxen Kirche, der russischen Medien und sozialen Netzwerke und ebenso von offizieller Regierungsseite kam infolge der Entscheidung des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus auf, in die Ukraine seine offiziellen Vertreter zu schicken. Sie zeigt, wie groß die Panik in Russland ist. ... Woher rührt diese Panik? Vor allem hat sie tiefliegende politische Ursachen. Es ist eine Reaktion darauf, dass den Akteuren plötzlich bewusst wurde, wie fundamental fehlerhaft die gesamte Politik Russlands bezüglich der bilateralen Beziehungen zur Ukraine ist.“
Religion als Werkzeug der russischen Herrscher
Viel zu verschränkt ist die russisch-orthodoxe Kirche mit der Politik, das findet auch Zeit Online:
„Seit den Zeiten Peters des Großen ist die russische Kirche keine unabhängige Größe, sondern dem Staat untergeordnet. Unter Putin ist sie Exekutions- und Zuspitzungsorgan staatlicher Politik geworden. Das war ihre Rolle im Ukraine-Krieg 2014, als russische Popen die Waffen der Separatisten und Soldaten im Donbass segneten und mit historischen Ausstellungen den Nationalismus anheizten. In der Ukraine aber weigerten sich orthodoxe Priester, den im Donbass gefallenen ukrainischen Soldaten das letzte Geleit zu geben. ... Ob in der Ukraine oder in Syrien, die loyale russische Orthodoxie singt das Hohelied der nationalen Expansion. Sie machen Religion nicht zum Opium des Volks, sondern zum Werkzeug der Herrscher.“