Was kann Selenskyj für die Ukraine erreichen?
Nach seinem deutlichen Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine mit 73 Prozent der Stimmen hat Wolodomyr Selenskyj angekündigt, die Korruption zu bekämpfen und den Konflikt im Donbass zu befrieden. Der politisch unerfahrene Selenskyj war als Schauspieler einer Comedy-Serie bekannt geworden. Kommentatoren reagieren mit gemischten Gefühlen auf die Wahl des Polit-Neulings.
Neuer Präsident überwindet alte Spaltung
In der Wahl Selenskyjs sieht Krytyka Polityczna ein Zeichen dafür, dass die Ukraine wieder zusammenwächst:
„Selenskyjs Sieg zeigte nicht wie üblich die Spaltung des Landes in Ost und West. ... Jahrelang haben sich die ukrainischen Eliten im Rahmen zweier verfeindeter Modelle bewegt: der proeuropäischen ukrainischsprachigen Patrioten und der prorussischen russischsprachigen 'Post-Sowjets'. Selenskyj, der selbst ein russischsprachiger Jude ist, lehnt das ab: Man kann Russisch sprechen und eine Vorliebe für die postsowjetische Kultur haben, sich aber gleichzeitig als Ukrainer fühlen, Russlands aggressive Handlungen verurteilen und europäische Bestrebungen haben.“
Einige Probleme der Ukraine sind unlösbar
Für einen Heilsbringer ist Selenskyj zu machtlos, stellt Dennik N fest:
„Seine Wähler erinnern an Patienten, die nach dem Scheitern der traditionellen Medizin beschließen, sich einem Scharlatan anzuvertrauen. Sie glauben nicht unbedingt, dass ihnen das helfen wird, aber sie glauben, dass sie sowieso nichts zu verlieren haben. ... Einige Probleme der Ukraine sind aber praktisch unlösbar. Die Rückführung der russisch besetzten Krim und des okkupierten Ostens der Ukraine liegt heute nicht in der Macht irgendwelcher Politiker in Kiew oder des Westens. Kiew ist dazu militärisch nicht in der Lage. Und politische Verhandlungen führen zu nichts, wenn die andere Seite nicht an einer ernsthaften Lösung interessiert ist. Putins Regime entscheidet über die Fortsetzung der Besatzung sowie über die Befreiung der ukrainischen Gefangenen - die Selenskyj verspricht - nach seinen eigenen Bedürfnissen.“
Tränen für Poroschenko sind fehl am Platz
Die Emotionalität, mit der die Anhänger Poroschenkos diesem nach seiner Wahlniederlage beistanden, findet Zaborona ungewöhnlich:
„Diese sentimentale Verabschiedung von einem Präsidenten, mit Sprechchören der Dankbarkeit und Tränen sowie dem Versprechen seinerseits, er werde zurückkehren, ist neu. ... Dafür hat man sogar die Präsidialadministration auf der Bankowa Straße geöffnet, in die normalerweise gewöhnliche Sterbliche keinen Zutritt haben. ... Doch allzu heftige Emotionen, wie brennender Hass und totale Ablehnung oder auch zärtliche Begeisterung, mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen, sind gegenüber einer Regierung fehl am Platz. Sie verhindern eine kühle, sachlich begründete Bewertung der Effizienz der Regierung und ihrer Fähigkeit, unseren Alltag zu erleichtern.“
Der richtige Mann für den Frieden
Das Wahlergebnis ist eine Chance für den festgefahrenen Konflikt im Donbass, analysiert die taz:
„Der neue russischsprachige Präsident, dessen Ukrainischkenntnisse ausbaufähig sind, könnte das Freund-Feind-Schema durchbrechen und zum Versöhner und Brückenbauer in seinem Land werden. Sollte dieses - zugegebenermaßen recht ambitionierte - Unterfangen gelingen, böte sich vielleicht endlich auch ein Weg, um den Donbass dauerhaft zu befrieden. ... Zumindest die vage Möglichkeit einer Friedensperspektive für den Osten der Ukraine sollte für Brüssel Grund genug sein, sich auf Selenskyj einzulassen und ihn bis zum Beweis des Gegenteils zu unterstützen.“
Von so einer Demokratie können Russen nur träumen
Die russische Radiosender Echo Moskwy äußert Respekt für die Reife des demokratischen Prozesses in der Ukraine, die im eigenen Land fehle:
„Bei uns wird es keine Debatten im Stadion geben - weil es überhaupt keine gibt. Und keinen zweiten Wahlgang. Und fraglich, ob wir jemals einen anderen Menschen im Kreml erleben werden als den gegenwärtigen. ... Das sollte uns in erster Linie Sorgen bereiten. Die Ukraine kommt schon alleine klar. Stellt sich Selenskyj als schlecht heraus, wählen sie eben jemand anderes. Sie sind das schon so gewohnt, dort geht das offenbar gar nicht anders. Aber für uns bleibt das weiterhin ein Traum und völlige Phantasterei.“
Der nächste Erfolg eines Polit-Neulings
Der 41-jährige Schauspieler hat gewonnen, weil er bislang nichts mit Politik zu tun gehabt hatte, meint Evenimentul Zilei:
„Wir haben es mit einer Illusion zu tun, die große Verführungskraft besitzt und bislang noch nicht geplatzt ist, weil sie sich in der Realität noch nicht beweisen musste. ... Die unbedarfte Wählerschaft wird durch eine Antisystem-Kampagne verführt. Der Präsident der ukrainischen TV-Serie, den Wolodymyr Selenskyj gespielt hat, entspricht genau dieser neuen Illusion. Er ist ein Mann fernab des Systems, der von diesem ganz und gar zurückgewiesen wird, weil er nicht zur Clique gehört. Und nun kann er das machen, was die traditionellen Politiker nicht konnten. ... Der neue Typus Postpolitiker wird auch im Fall von Donald Trump in Amerika sichtbar, bei Beppe Grillo in Italien und bei Zuzana Čaputová in der Slowakei.“
Wer nichts verspricht, kann nicht enttäuschen
Der Wahlsieg Selenskyjs wird die Ukraine kaum verändern, fürchtet Eesti Päevaleht:
„Selenskyj, der bislang nach dem Rezept 'keine Versprechen, keine Enttäuschungen' handelte, präsentierte bislang keine Ideen zur Lösung von Problemen wie Krieg, Korruption oder Auswanderung. Man kann nur ahnen, in welche Richtung sich die Ukraine unter Selenskyj bewegen wird. Die optimistische Version ist, dass der Druck der Kriegsveteranen aus dem Donbass und der Bürgerbewegung gegen Korruption Selenskyj in eine Entwicklung in Richtung Westen zwingen könnte. Aber darauf wetten, würde sich nicht lohnen.“
Putin wittert seine Chance
Seine Unerfahrenheit ist Selenskyjs größtes Manko, glaubt De Volkskrant:
„Die wichtigste Frage ist, ob Selenskyj Putin gewachsen ist. Dieser hofft, dass er den Komiker dazu verführen kann, im Tausch für Investitionen in die schwächelnde ukrainische Wirtschaft einen Deal über den Status des Donbass abzuschließen, die von den prorussischen Separatisten kontrollierte Region. Auf diese Weise möchte Moskau die Sanktionen loswerden, die westliche Länder 2014 gegen Russland verhängt hatten. Selinskyj hat im Gegensatz zu Putin, der bereits mehrere hinterhältige militärische Operationen verantwortete, keinerlei militärische und diplomatische Erfahrung. Es besteht also die Gefahr, dass er sich täuschen lässt von dem gerissenen Herrscher des Kreml.“
Oligarchen-TV brachte Selenskyj den Sieg
Die fehlende Medienfreiheit in der Ukraine hat Selenskyj den Sieg geschenkt, glaubt der Tages-Anzeiger:
„Er war nur möglich, weil ukrainische Medien von Oligarchen dominiert werden, die bestimmen, wer in ihre Fernsehsender kommt - und wer nicht. Ex-Verteidigungsminister Anatolij Grizenko zum Beispiel, der ebenfalls Präsidentschaftskandidat war und seit Jahren glaubwürdig für Korruptionsbekämpfung und gegen die Interessen der Oligarchen auftrat, kann ein Lied davon singen: Er kam jahrelang praktisch nicht ins Fernsehen und bekam in einem Land, in dem sich 85 Prozent der Bevölkerung ausschliesslich über das Fernsehen informieren, nie eine nationale Bühne. Das Gleiche gilt für echte Reformparteien, die es in der Ukraine immer wieder gibt, über die aber in den Oligarchensendern kaum berichtet wird und die auch deshalb kaum je über den Rang von Kleinparteien hinauskommen.“