Ade Vertrauensarbeitszeit, willkommen Stechuhr?
Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs sollen Arbeitgeber künftig die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch erfassen. Die Luxemburger Richter hatten sich mit der Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank beschäftigt. Einige Kommentatoren feiern dies als gute Nachricht für die Arbeitnehmer. Andere sorgen sich um den Wirtschaftsstandort EU.
Geleistete Arbeit gehört bezahlt, basta!
Die Richter haben richtig gesprochen, freut sich die Frankfurter Rundschau:
„Die Arbeitszeit in deutschen Unternehmen gehört ordentlich erfasst. Basta! Die Unternehmen stellen die Beschäftigten ein, damit sie erledigen, was ihnen aufgetragen wird. Es ist Arbeit, die bares Geld wert ist. Die Unternehmen steigern damit ihren Umsatz und ihren Gewinn. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass sie diejenigen, die dafür arbeiten, korrekt bezahlen. Dazu gehört, dass jede geleistete Arbeitsstunde bezahlt wird.“
Zurück zum guten alten Klassenkampf
Auch Duma bewertet das Gerichtsverfahren positiv:
„Die spanischen Gewerkschaften lenken den Blick darauf, dass all die 'Erleichterungen' für Unternehmen, die man jahrzehntelang als wachstumsstimulierend und geradezu himmlische Wohltat ansah, doch nur dazu führen, dass Arbeitnehmer ausgebeutet und in eine immer schwächere Position gedrängt werden. … Das liberale Mantra von der Selbstregulierung der Marktwirtschaft hat sich schon 2008 als fehlerhaft entpuppt und wird es weiterhin bleiben. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich illustriert das am besten. Es ist mal wieder Zeit für den guten alten Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital.“
Investoren werden abgeschreckt
Die Tageszeitung Die Welt fürchtet großen Schaden für den Wirtschaftsstandort EU:
„Man sieht förmlich Nigel Farage, wie er alles für seine nächsten Pub-Reden genüsslich zerpflückt: Dieses sozialkonservative, leistungsfeindliche, hyperbehördliche Europa als Wachstums- und Innovationskiller zu porträtieren, fällt leichter denn je. Gilt schon das kreuzkomplizierte, arbeitnehmerzentrierte deutsche Arbeitsrecht als ein massives Investitionsrisiko, so dürften viele ausländische Unternehmen und Investoren künftig einen noch größeren Bogen um die EU machen. Schlimmer noch: Weitere Arbeitsplätze werden in Länder verlagert, in denen keine Sozialstandardisierungen die unternehmerischen Freiheiten ausbremsen, eliminieren oder konterkarieren.“
Stempeln ist so was von oldschool
Der EuGH legt das Recht richtig aus, doch die mit dem Fall verbundenen Grundsatzfragen werden damit nicht beantwortet, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Eine ehrliche Debatte muss tiefer schürfen: Wie kann in einer digitalisierten Welt mit immer mehr autonom arbeitenden Arbeitnehmern und flexiblen Arbeitszeitmodellen die Arbeitszeit so geregelt werden, dass weder jede Initiative in Bürokratie ertrinkt noch (Selbst-)Ausbeutung zur Regel wird? Sind hierzu EU-weite Vorschriften überhaupt sinnvoll? Die Antwort ist nicht einfach, doch eins ist sicher: Eine flächendeckende Arbeitszeiterfassung nach dem Stechuhr-Modell ist kein sinnvoller Teil der Antwort.“