Merkel und Orbán erinnern an Flucht über Ungarn
Bundeskanzlerin Merkel und Ungarns Premier Orbán erinnern am heutigen Montag gemeinsam an das Paneuropäische Picknick in Sopron. Am 19. August 1989 gelang dort etwa 600 DDR-Bürgern die Flucht über die österreichisch-ungarische Grenze. Dass ausgerechnet diese beiden Politiker gemeinsam des ersten Risses im Eisernen Vorhang gedenken, bewegt die Kommentatoren.
Beide könnten kaum unterschiedlicher sein
Sydsvenskan lenkt den Blick auf die völlig unterschiedlichen Ansatzpunkte der beiden Politiker:
„Zwei Führungspersönlichkeiten mit völlig unterschiedlichen Ansichten, wie sich der Kontinent und die Europäische Union entwickeln sollen. Zwei Führer in einem Europa, das gewissermaßen wieder in einen östlichen und einen westlichen Teil gespalten werden kann. Orbán der Anführer des Nationalismus und der antiliberalen Demokratie unter den Staats- und Regierungschefs der EU. Merkel, der sichere Mittelpunkt Deutschlands und der EU in Zeiten der wirtschaftlichen Unruhe und der Flüchtlingskrise; Merkel mit einem offenen demokratischen Ohr.“
Merkel beißt die Zähne zusammen
Der Besuch der deutschen Kanzlerin in Sopron ist allein der Geschichte geschuldet, schreibt das unabhängige Internetportal Index:
„Der Fall der Berliner Mauer begann in Ungarn. Der erste Schritt zur deutschen Wiedervereinigung war das paneuropäische Picknick, sagte Helmut Kohl 1990 bei der Feier zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik und der DDR. ... Dieser Satz beinhaltet den Grund, warum Angela Merkel sich entschlossen hat, Viktor Orbáns Einladung anzunehmen und bei der 30-Jahrfeier des paneuropäischen Picknicks anwesend zu sein, obwohl sie nicht einmal annähernd ein gutes Verhältnis zu ihm hat. Angela Merkel war zuletzt im Februar 2015 in Budapest und noch im Frühling sah es so aus, als habe sie keine besonders große Lust, gemeinsam mit dem ungarischen Regierungschef zu feiern.“
Ost und West trennt noch vieles
Drei Jahrzehnte nach dem paneuropäischen Picknick sind viele Hoffnungen auf ein geeintes Europa enttäuscht worden, urteilt die Tageszeitung Kurier:
„30 Jahre nach diesen epochalen Erschütterungen hat Europa heute ein anderes Gesicht. Unter dem Dach der EU vereint es die einst kommunistischen Staaten mit jenen der ideologischen Feinde im Westen. Man teilt eine politische Union, doch wirklich zusammengewachsen sind die beiden Blöcke längst noch nicht. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten blieben himmelschreiend groß, in einigen Teilen Europas darf wieder die 'illiberale Demokratie' gepredigt werden. Es gibt noch viel zu tun in jenem 'freien Europa', in das sich einige Hundert DDR-Flüchtlinge so begeistert gestürzt hatten.“
Nicht von Fehlentwicklungen ablenken lassen
Es gibt Gründe zum Feiern, meint hingegen der Politologe Steven van Hecke in De Morgen:
„Was vor 30 Jahren undenkbar war, ist nun Realität. Man sehe sich nur die Karriere von Merkel an. Aber auch, was niemand für möglich hielt, ist erneut Wirklichkeit: Demokratische Rückschritte im Herzen Europas, nämlich in Polen und Ungarn. ... Dennoch dürfen wir nicht nur wie gelähmt auf die 'Fehlschläge' in Polen und Ungarn starren. Schon allein deshalb, weil die Opposition in beiden Ländern versucht, sich erneut zu organisieren. Auch die demokratischen Protestbewegungen in verschiedenen anderen EU-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa sind ein hoffnungsvolles Signal.“
Westen will keine blühenden Landschaften
Die innerdeutsche Grenze ist auch nach all der Zeit noch nicht verschwunden, schreibt Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ernüchtert:
„Die drei wichtigsten Stichworte dafür sind sattsam bekannt: Abwanderung, mangelhafte Steuerkraft, zu wenig Unternehmensansiedlungen. Es ist wie in der Klimapolitik: Riesenaufwand, enttäuschender Ertrag. Aber die Methode ändern zu können, auch das bleibt ein kühner Traum. Warum? Man muss es so hart sagen: Vor allem deshalb, weil es nicht im Interesse der Besitzstandswahrung Westdeutschlands liegt. Sonst gäbe es im Osten längst Sonderwirtschaftszonen, mehr Steuereinnahmen, mehr Anreize für Unternehmensansiedlungen, weniger Abwanderung.“
Heutiges Deutschland erinnert an DDR
30 Jahre nach dem Mauerfall warnt der Historiker Hubertus Knabe in der Neuen Zürcher Zeitung, dass viele Ostdeutsche im heutigen Staat Parallelen zur DDR sehen:
„Wenn der Bundestag der grössten Oppositionspartei [AfD] beharrlich einen Posten als Vizepräsident verweigert, bestärkt er selbst den Eindruck, er sei bereits 'gleichgeschaltet' mit der DDR-Volkskammer. Auch die Entscheidung des Verfassungsschutzes, die AfD stärker zu überwachen, aktiviert im Osten sofort die Erinnerung an die Stasi. Die Behinderung ihrer Veranstaltungen durch Gegendemonstranten, die Nichtzulassung ihrer Kandidaten in Sachsen, die Forderung prominenter Politiker, die AfD zu verbieten oder einzelnen Personen ihre Grundrechte zu entziehen - all dies gerät im Osten automatisch in den Kontext der DDR-Vergangenheit.“
Ein neuer Sozialismus ist möglich
Vielleicht ist es an der Zeit, der Idee des Sozialismus neues Leben einzuhauchen, schlägt Wirtschaftsjournalist Romaric Godin in Mediapart vor:
„Der Sozialismus kann heute einen neuen Fortschritt definieren, der sich ebenso vom bürokratischen und autoritären Sozialismus des Sowjetregimes abgrenzt, wie von der tödlichen Flucht nach vorn des neoliberalen Spätkapitalismus. Er kann ein befreiendes, demokratisches und humanistisches Projekt sein, das Vertrauen in den Fortschritt setzt und der Versuchung der Lebensfeindlichkeit ebenso widersteht wie dem blinden Vertrauen in die Mechanismen des Marktes. Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass es einfach sein wird, dieses neue System zu errichten. Man wird Hindernisse überwinden, über Ideen diskutieren und sie hinterfragen müssen.“