Neue Einigkeit nach dem Nato-Treffen?

Die USA mit Europa über Kreuz, Hirntod-Diagnosen und eine widerspenstige Türkei: Die Prognosen zu den Erfolgsaussichten des Nato-Gipfels diese Woche in London klangen zumeist ziemlich düster. Nun ist die Konferenz zu Ende - und das Hauptroblem ist nach Ansicht der Kommentatoren nicht mehr die innere Uneinigkeit.

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La Stampa (IT) /

Streit wurde vermieden

Die atlantische Allianz steht nach dem Londoner Gipfel besser da als vorher, urteilt der ehemalige italienische Nato-Delegierte Stefano Stefanini in La Stampa:

„Selbst wenn sie nicht in allen Punkten einig sind, haben die Führungskräfte tunlichst einen Streit vermieden, der nur Schaden angerichtet hätte. Die Unterschiede sind sichtbar, aber auch der Wille, zusammenzubleiben. Das knappe Abschlusskommuniqué - Kürze ist eine Tugend - benennt die Herausforderungen, die die Nato nach wie vor unverzichtbar machen. ... China wird nicht als Bedrohung, geschweige denn als Feind eingestuft, sehr wohl aber 5G, wenn es in falsche Hände gerät. ... Die 5G-Technologie ist eine Frage der Sicherheit, nicht nur des Handels; sie bringt Peking ins Spiel: Wer sonst hat sie im Angebot?“

The Daily Telegraph (GB) /

China als Bedrohung ernst nehmen

Es ist höchste Zeit, dass die Nato die zunehmende Bedrohung durch China wirklich ernst nimmt, meint The Daily Telegraph:

„Peking hat globale Ambitionen, und seine Reichweite und Schlagkraft sind weitaus größer als alles, was Russland aufbieten kann. In den vergangenen Jahren hat China die Nato-Staaten in mehrfacher Weise ins Visier genommen, etwa mit dem Diebstahl von Technologien, die militärisch wie zivil eingesetzt werden können, und von geistigem Eigentum. Dazu kommt Spionage im Cyberspace und im Bereich des Humankapitals. ... Die Verbündeten sind offenbar noch nicht bereit, China als potenziellen Gegner oder wenigstens als strategischen Konkurrenten zu bezeichnen. Die zunehmende Bedrohung durch Peking erfordert jedenfalls eine umfassende Reaktion.“

wPolityce.pl (PL) /

Europas Ostflanke wird gestärkt

WPolityce.pl freut sich über die Erfolge des Nato-Gipfels aus polnischer Sicht:

„Eine Bedrohung für die gemeinsame Politik der Nato war die Ankündigung des türkischen Präsidenten Erdoğan, ein Veto gegen einen Plan zur Stärkung der Ostflanke [Polen und die baltischen Staaten] einzulegen, wenn das Bündnis die an der türkisch-syrischen Grenze operierenden kurdischen Formationen nicht als terroristische Organisationen anerkennt. Letztendlich entschied sich Erdoğan nach Gesprächen mit den Präsidenten Duda und Trump, den Führern der baltischen Staaten sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gegen ein Veto. ... Hier ist mit Ankara sicherlich eine Einigung erzielt worden, deren Inhalt wir noch nicht kennen, die jedoch unabhängig von ihrem Inhalt für uns von Vorteil ist. Denn zum einen wird die Ostflanke planmäßig gestärkt, zum anderen findet keine weitere Auflösung der Nato statt.“

Habertürk (TR) /

Türkei braucht die Anbindung an den Westen

Die regierungstreue Kolumnistin Nagehan Alçı bricht in Habertürk eine Lanze für die Nato:

„Das Foto, auf dem sich die vier Staatsführer [Macron, Johnson, Erdoğan und Merkel] im Anschluss an den Gipfel ablichten ließen, zeigt die Richtung, in die dieses Land gehen muss. Wir sollten uns nichts vormachen, so viele zu kritisierende Eigenschaften die westliche Welt auch hat: Es gibt außer ihr keinen anderen Anker für Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Demokratie. Selbstverständlich müssen wir, angefangen mit Russland, vielfältige Beziehungen ausbauen. Was die S-400 [russisches Raketenabwehrsystem] anbelangt, sind wir im Recht. Hätte man uns die Patriots [US-amerikanisches Raketenabwehrsystem] gegeben, wären wir nicht auf die S-400 angewiesen gewesen. Doch wir müssen als Teil des westlichen Bündnisses eine unabhängige Haltung einnehmen, und das werden wir auch tun.“

Irish Examiner (IE) /

Europa zu uneins für gemeinsame Armee

Eine eigenständige EU-Verteidigungspolitik ohne die USA hält Irish Examiner für illusorisch:

„Die Staaten, die heute die EU bilden, schätzen ihre Eigenständigkeit sehr. Das kommt vor allem dann zum Tragen, wenn es um die Entscheidung geht, junge Soldaten in Gefahrensituationen zu schicken. Es gibt aber auch unterschiedliche Interessen. Die Franzosen sind in ihren früheren Kolonien in Afrika aktiv. Die Polen und Balten fühlen sich in erster Linie von Russland bedroht. Deutschland ist das alles völlig gleichgültig, es baut sich fröhlich eine zweite Gaspipeline nach Russland und umgeht dabei die östliche EU. Die Mitgliedstaaten haben zudem unterschiedliche historische Traditionen, was die Bildung einer gemeinsamen integrierten Kommando-Hierarchie beinahe unmöglich macht. “

Mérce (HU) /

Machtpolitik braucht keine Feigenblätter mehr

Um globale militärische Präsenz zu legitimieren, braucht es die Nato nicht mehr, meint das linke Onlineportal Mérce:

„Die USA sind, wie vor 70 Jahren, die größte militärische und wirtschaftliche Macht der Welt, und ihre strategischen Interessen sind bis heute dieselben. Nur gibt es heute andere Instrumente, die diesen Interessen effektiver dienen. ... In unserer Zeit braucht die Machtpolitik die Feigenblätter [der Zusammenarbeit im Bündnis] viel weniger. Trump versteht das viel besser als das außenpolitische Establishment der USA, das bis heute auf diesen Feigenblättern besteht. In Frankreich ist Macron nicht skeptischer bezüglich der Nato, als es damals Charles de Gaulle war. ... Nur hat Macron heute viel mehr Raum dafür, aus dem 'Kooperationsdiskurs' auszuscheren, als sie de Gaulle hatte.“

Kurier (AT) /

70. Geburtstag mit renitenten Gästen

Drei Störenfriede könnten die Nato-Party vermasseln, erklärt der Kurier:

„Da wäre zunächst US-Präsident Trump. Was die Partner in die Allianz einzahlen, reicht ihm nach wie vor nicht. ... Da ist neuerdings auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der geht mit dem rhetorischen Vorschlaghammer auf die Nato los. 'Hirntod' diagnostizierte er bei der Allianz ... Und da ist zu guter Letzt der türkische Präsident Erdoğan, der ohne Rücksicht auf seine Bündnispartner macht, was ihm beliebt ... Für ausreichend Zündstoff bei der Nato-Party ist also gesorgt. Doch wie es aussieht, wird das 70-jährige Geburtstagskind noch ein Stück älter werden. Denn trotz aller Kritik und innerer Krisen hat das westliche Bündnis auf dem Boden der militärischen Realität nicht an Schlagkraft verloren. Anders gesagt - oder um in Macrons Tonfall zu bleiben: nicht der Hirntod quält die Nato, eher ein Bandscheibenvorfall.“

Azonnali (HU) /

Europa völlig ideenlos

Das größte Problem der Nato sind nicht die USA, erklärt Azonnali:

„Der Hirntod ist nicht in Washington, sondern in Europa, das einstweilen offensichtlich ideenlos vor der Frage steht, wie es seit 1918 zum ersten Mal selbst - ohne die USA - Frieden auf dem Kontinent schaffen soll. Europa ist heute ebenso wenig fähig dazu wie seit eh und je. ... Wenn Trump die europäischen Nato-Mitglieder unter Druck setzt, damit sie endlich einen größeren Beitrag zum militärischen Bündnis leisten, weist er darauf hin, dass Europa ohne die USA auch heute noch wehrlos ist. ... Da die europäische Ära der Weltgeschichte langsam zu Ende geht, haben die USA am Ordnung-Schaffen in Europa kein so starkes Interesse mehr wie 1918, 1945 oder nach 1989; weder im geopolitischen, noch im moralischen Sinne.“

Kommersant (RU) /

Ohne die russische Bedrohung geht nichts

Dass die Nato am ewigen Feindbild Russland festhält, ist für Kommersant ein Zeichen von Altersstarrsinn:

„Russland gehört nicht zu den fünf Ländern mit dem größten Militärhaushalt. Vor dem Londoner Gipfel hat es sogar ein Moratorium für die Aufstellung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa vorgeschlagen. Überhaupt gibt sich Moskau alle Mühe, den Natostaaten keinen Vorwand zu geben, es aggressiver Ansinnen zu verdächtigen. ... Natürlich bleibt 'die russische Bedrohung' für Nato-Funktionäre eine wichtige Floskel. ... Auch wenn keiner mehr ernsthaft daran glaubt. ... In ihrer langen Verbundenheit mit dem russischen Thema erinnert die Allianz zunehmend an einen sklerotischen alten Gentleman, der zu seiner Geliebten kommt, aber vergessen hat, warum.“

Politiken (DK) /

Eine starke EU für eine starke Nato

Politiken glaubt, dass ein engagiertes Europa der Nato nur zugutekommen kann:

„Die Zweifel am Engagement der USA kann man nicht allein auf Trump reduzieren. Auch kommende US-Präsidenten werden einen höheren europäischen Beitrag einfordern. Die Nato funktioniert militärisch, aber trifft auf politische Zweifel. Beim Jubiläum sollten sich die Partner, inklusive der türkischen Regierung, einigen, die demokratische freie Gesellschaft weiter zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig besteht der Bedarf, dass die EU schrittweise mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernimmt. Das ist einfacher gesagt als getan. Deutlich teurer. Und extrem verpflichtend. Eine geringere Abhängigkeit von den USA und der Türkei ist derzeit verlockend, und die Stärke der sicherheitspolitischen Dimension seitens der EU der beste Beitrag für eine weiterhin starke Nato.“