EU und UK: Wie weiter nach der Trennung?
Seit dem 1. Februar ist Großbritannien nicht mehr Teil der EU und hat in Brüssel kein Mitspracherecht mehr. Wegen der Übergangsfrist bis Ende 2020 bleibt beim Grenz- und Warenverkehr allerdings erst einmal vieles beim Alten. Kommentatoren überlegen, wie die EU jetzt mit den Briten umgehen soll - und was deren Austritt nicht nur für London, sondern auch für das europäische Projekt bedeutet.
Europa ist nicht mehr unwiderstehlich
Der Brexit stürzt die EU in eine existenzielle Krise, befindet der deutsche Diplomat Rudolf G. Adam in der Neuen Zürcher Zeitung:
„Siebzig Jahre lang war der europäische Einigungsprozess eine stetige Erfolgsgeschichte. Die EU wuchs und vertiefte sich. Der Prozess schien unaufhaltsam und unumkehrbar. Das Ausscheiden Grossbritanniens ist der erste schwere Rückschlag auf diesem Weg. ... Mit dem Brexit stellt Grossbritannien die Verbindung als ganze zur Disposition. Die EU ihrerseits hat den Mythos von Unwiderstehlichkeit und Irreversibilität eingebüsst. Sie ist nicht mehr das 'manifest destiny' des Kontinents. Damit stellt sich erneut die Frage nach der Finalität der EU: Wohin soll sie sich als Institution entwickeln? Welchem politischen Ziel dient sie?“
Das darf sich nicht zu oft wiederholen
Wie viele Austritte die EU vertragen kann, ohne zu zerfallen, fragt sich Jutarnji list:
„Das Wochenende haben wir ohne das Vereinigte Königreich verbracht, aber auch mit der unangenehmen Nachricht, dass in Frankreich erneut die politische Position von Marine Le Pen erstarkt ist und die niederländische Rechte über eine eigene Brexit-Kampagne nachdenkt. Die Europäische Union kann ohne das Vereinigte Königreich überleben, aber sollten Frankreich oder die Niederlande sie verlassen, hört die EU auf zu bestehen. ... Die Frage ist, ob ein Zerfall der Europäischen Union so ruhig wie der Brexit verlaufen würde, dessen Folgen wir heute noch gar nicht absehen können.“
Den Graben nicht zu tief werden lassen
Wenn nun die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel verhandelt werden, muss die EU auch Selbstkritik walten lassen, mahnt De Tijd:
„Wenn ein Mitglied den Club verlässt, heißt das, dass der Club nicht gut funktioniert. Der Brexit muss ein Ansporn sein für eine besser funktionierende EU. Das ist keine einfache Aufgabe. Denn hier gibt es weitaus weniger Einmütigkeit als bei der Verhandlungsposition gegenüber den Briten. Bisher hatte der Brexit eine stark abschreckende Wirkung auf andere Länder, was eine Kündigung ihrer Mitgliedschaft betrifft. Aber was ist, wenn der britische Plan gelingt, während Europa in seiner alten Zwangsjacke bleibt? Der Brexit ist ein historischer Bruch. Aber über Tiefe und Umfang des Bruchs wird erst in den kommenden elf Monaten entschieden.“
Die Emotion hat über die Vernunft gesiegt
Warum der Brexit aus Sicht seiner Befürworter nicht scheitern kann, erklärt The Times:
„Der Brexit war für seine Protagonisten wie Michael Gove, Boris Johnson und Nigel Farage nie ein wirtschaftliches Projekt. Er war ein philosophisches Projekt - auch wenn man mit dieser Definition Gefahr läuft, dem Begriff seine Bedeutung zu rauben. Der Brexit war eine Befreiungsbewegung, und darin liegt das Geheimnis seines Erfolgs. Er belegt das, was Aristoteles in seinem Werk 'Rhetorik' hervorhob, nämlich dass ein Appell an die Gefühle besser wirkt als einer an den Verstand. Die Beschreibung des Brexit als Befreiung vom europäischen Joch stellt auch sicher, dass das Projekt niemals als Misserfolg interpretiert werden kann. Denn wenn Brexit bedeutet, das britische Recht von dem Europas zu trennen, dann garantiert schon allein die Umsetzung des Austritts aus der EU den Erfolg.“
Beispielloser Akt der Selbstzerstörung
Der Brexit macht Großbritannien in jeder Hinsicht zum Verlierer, analysiert The Irish Times:
„Kein anderer Staat hat sich in der jüngeren Vergangenheit derart sinnlos selbst Schaden zugefügt. Der Brexit wird Großbritannien ärmer machen. Das sagen selbst die Berechnungen der britischen Regierung voraus. Doch die tatsächliche Verarmung hat eine viel größere Dimension. Die Freiheiten der britischen Bürger werden eingeschränkt werden. Die Stimme des Landes in der internationalen Arena wird geschwächt, sein Ruf als offenes, zukunftsorientiertes Land schwer beschädigt. ... Die EU wird größter Handelspartner bleiben, die engsten Verbündeten werden Mitgliedstaaten sein. Als europäischer Staat wird Großbritannien in fast allen Schlüsselbereichen auf die eine oder andere Weise von EU-Politik betroffen sein. Doch Großbritannien wird bei diesen Entscheidungen kein Mitspracherecht haben.“
Europa kann keinen neuen Gegner gebrauchen
Die EU sollte der Versuchung widerstehen, sich an Großbritannien für den Brexit zu rächen, mahnt das Wirtschaftsblatt Les Echos:
„Großbritannien durch Isolierung oder Zusatzabgaben auf seine Exporte zu schwächen, würde nur zu unserer eigenen Schwächung führen. Muss man daran erinnern, dass, wenn London Macht und seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren sollte, Paris keinen Grund mehr hätte, seinen Sitz zu behalten? Zum Beginn des Jahres 2020 ist zu hoffen, dass die 27 alles dafür tun, damit Großbritannien möglichst bleibt, was es bislang war: ein Land, das unsere Normen in Sachen Soziales und Umwelt einhält und den europäischen Werten Glanz verleiht. Das von China bedrohte und von den USA malträtierte Europa kann es sich nicht erlauben, dass vor seinen Toren ein neuer Feind entsteht.“
Verrat am Mittelstand
Das Wochenmagazin Revista 22 der rumänischen NGO Grupul pentru Dialog Social glaubt, dass die Hauptleidtragenden des Brexits kleinere Unternehmen sein werden:
„Die großen globalen Konzerne werden relativ gut zurechtkommen. ... Sie haben ihre Hausaufgaben längst gemacht. Die kleinen und mittelgroßen Firmen trifft es wirklich. Also genau die 'dynamischen' Unternehmer, die allen Beteuerungen zufolge die allererste Priorität des konservativen Dogmas darstellen. ... In Wirklichkeit haben die Politiker, ob von den Tories oder von Labour, für diese Unternehmer nie auch nur einen Finger bewegt. Nicht von den kleinen Firmen kommen die Beraterjobs oder die Aufsichtsratsposten, von denen Politiker für die Zeit nach ihrem Mandat träumen. Sie kommen von den Multis, die öffentlich an den Pranger gestellt werden, aber beste Möglichkeiten der Einflussnahme auf alle Politiker haben.“
Verbündete im Vereinigten Königreich stärken
Die EU sollte bei den nun anstehenden Verhandlungen vor allem auf die Unterstützung Schottlands und Nordirlands setzen, die eigentlich in der EU bleiben wollten, mahnt De Morgen:
„Schotten und Nordiren planen Referenden, um Großbritannien zu verlassen. Der Preis, den sie fordern, um das nicht zu tun, wird eine dauerhafte und enge Handelsbeziehung mit der EU sein. Wenn Premier Johnson wider alle Vernunft nicht auf seine Regionen hört, wird er nicht nur in die Geschichte eingehen als der Premier, der eine neue Meeresgrenze im Kanal zog, sondern auch als derjenige, der die Schotten gehen ließ und einsam zurück blieb, wie der Kaiser ohne Kleider.“
Brejoin nicht ausgeschlossen
Zehn Jahre müssen ins Land gehen, um über einen Wiedereintritt nachzudenken, glaubt Historiker Timothy Garton Ash in El País:
„Wie stehen die Chancen, dass Großbritannien zur EU zurückkehrt? Diese Frage steht heute nicht auf der Tagesordnung. Fünf Jahre werden wir brauchen, um herauszufinden, was der Brexit wirklich bedeutet, und weitere fünf Jahre, um zu sehen, wie es in der Praxis läuft. Die EU wird sich verändert haben. Ich vertraue wirklich darauf, dass die Briten 2030 damit beginnen, über eine Rückkehr nachzudenken. Nicht aus einem Angst- oder Frustgefühl heraus, sondern weil ihnen bis dahin klarer geworden ist - und sie es gelassener akzeptieren - wer sie sind und wo sie stehen. Aber diese Perspektive hängt auch davon ab, ob die EU in zehn Jahren attraktiver und dynamischer ist als heute. Dann, und nur dann, wäre es glaubhaft, vom Reden über den Brexit zum Reden über den Brejoin überzugehen.“
Hoffentlich der Beginn einer Austrittswelle
Der Daily Telegraph lobt den Brexit als vorbildlich:
„Wir müssen hoffen, dass sich im Laufe der Zeit weitere Staaten entscheiden, die EU zu verlassen, und ihnen das auch erlaubt wird. Dass es eines Tages einen Frexit und einen Dänexit geben wird. Dass der Euro in geordneter Weise abgeschafft wird. Und dass das gesamte Projekt dahinschwindet und durch eine losere, liberale Form der Zusammenarbeit ersetzt wird. Der Euroskeptizismus war nie eine eigennützige Ideologie. Es ging nie nur darum, dass sich Großbritannien wieder selbst regieren kann. Kein echter Euroskeptiker hat je behauptet, dass es für die Niederlande und Spanien akzeptabel, für Großbritannien aber inakzeptabel sei, Demokratie durch Technokratie zu ersetzen. Wenn das für uns schlecht war, dann war es das auch für die anderen.“
Der wahre Brexit kommt erst noch
Obwohl der Brexit unmittelbar bevorsteht, wird sich erst einmal wenig ändern, analysiert Jutarnji list:
„Die Frage 'Was kommt nach dem Brexit?' war einer der meistgesuchten Begriffe auf Google nach den britischen Parlamentswahlen, die Premier Boris Johnson überzeugend gewann. Die kürzeste Antwort lautet - sehr wenig. Von diesem Datum an beginnt nämlich die Übergangszeit, welche bis zum 31. Dezember 2020 andauert und während welcher die gleichen Handels-, Arbeits- und Reiserechte wie bisher gelten. Das Datum bedeutet lediglich den Anfang der Verhandlungen mit der Europäischen Union über die zukünftigen Verhältnisse und den schwierigsten Teil - die zweite Phase des Brexit.“
EU wird sich nicht spalten lassen
Die britische Regierung sollte die EU-Staaten auch in den kommenden Verhandlungen nicht unterschätzen, rät The Independent:
„Irlands Premier Leo Varadkar geht vermutlich zu Recht davon aus, dass Boris Johnson mit seiner angepeilten Politik des 'Teilens und Herrschens' gegenüber den EU-Mitgliedstaaten in Phase zwei des Brexit-Prozesses nicht erfolgreicher sein wird als seine Vorgängerin Theresa May in Phase eins. Johnsons Team glaubt, dass es funktionieren wird, weil EU-Länder in den Handelsgesprächen unterschiedliche Ziele verfolgen werden. Es wäre jedoch unklug, die Entschlossenheit der EU zu unterschätzen, angesichts einer gemeinsamen Bedrohung zusammenzuhalten. Denn wir haben es hier mit dem ersten Land zu tun, das den Block verlässt und ein wirtschaftlicher Rivale vor der EU-Haustür wird.“
Das schwarze Schaf sind nicht mehr die anderen
Historiker Kevin O’Rourke meint in Le Monde, nach dem Brexit werden die Politiker häufiger für ihr Handeln einstehen müssen:
„Der europäische Sündenbock fällt dann weg. Wenn der Brexit ein Erfolg für Großbritannien wird, um so besser, aber wenn das Königreich wieder 'der kranke Mann Europas' wird, wie einst, dann ist es selbst schuld. Der Brexit nimmt auch der EU ihren Sündenbock auf der anderen Seite des Ärmelkanals weg. Wenn Europa die Einheit nicht vorantreibt, und das scheint in mehreren Bereichen notwendig zu sein, um in einer immer gefährlicheren Welt bestehen zu können, dann ist das nicht die Schuld der Engländer. Das ist auch eine gute Sache.“
Johnson hofft auf Trump
Es besteht weiterhin die Gefahr des ungeregelten Brexits, warnt hvg:
„Falls es nicht gelingt, sich in den nächsten elf Monaten auf die zukünftigen Beziehungen zu einigen, muss die britische Regierung um eine Verlängerung bitten. In Ermangelung dieser wird das Vereinigte Königreich endgültig hart aus der EU fallen. Johnson hat jedoch per Gesetz deklariert, dass er das nicht will und hat entsprechend seiner bisherigen Rhetorik klargemacht: Was auch passiert, man muss ein Abkommen erreichen. Doch er hat ja früher auch schon viel gesagt, und später ist das Gegenteil passiert. Dieses Mal hofft er auch darauf, dass er mit Unterstützung seines populistischen Politikerkollegen Donald Trump das Freihandelsabkommen mit den USA abschließen kann.“