Geisterspiele: Ist das noch Fußball?
Nach mehr als zwei Monaten Pause nimmt die deutsche Bundesliga den Spielbetrieb wieder auf – als erste Top-Liga in Europa. Doch gewohnter Fußball ist Fehlanzeige: Die Tribünen sind leer, Interviews werden mit Abstand geführt, Umarmungen und Abklatschen sind zu unterlassen. Fan-Organisationen kritisierten die Geisterspiele teils scharf. Und auch die Sportkommentatoren scheinen in zwei Lager gespalten.
Ein Tor ohne Umarmungen ist kein echtes Tor
Der Ball rollt wieder, aber das ist noch lange kein Fußball, klagt HuffPost Italia:
„Der Fußball ist zurück, zumindest in Deutschland mit der Bundesliga. … Doch das Gefühl einer 'Leere' bleibt bestehen. Und die Frage: Hat das alles dann überhaupt noch eine Bedeutung? Wahrscheinlich muss man sich, wie bei vielen anderen Dingen, an die zahlreichen Veränderungen in Pandemiezeiten einfach gewöhnen. Aber die Nostalgie bleibt, die Sehnsucht nach dem Fußball des Volkes, der Tribünen, der Farben. Es war ein Fußball der Geschichten, der Stimmen im Radio, der überfüllten Stadien. Der Phantasie. Der Wunder. Der moderne Fußball besteht aus unnahbaren Stars und jetzt, aus Gründen höherer Gewalt, aus 'Abwesenheiten'. Ein Tor ohne Umarmungen ist kein Tor mehr.“
Das Spiel bleibt magisch
Die Tageszeitung Die Welt hingegen freut sich über den Neustart:
„Sicher ist es schade, dass Klassiker wie das Duell der beiden Ruhrpott-Klubs oder das Derby der beiden Hauptstadtklubs am Freitag in leeren Stadien stattfinden. Natürlich vermisst jeder bei solchen Geisterspielen die klassische Stadionatmosphäre, es fehlt das Raunen und der Jubel der Zehntausenden. Aber auch vor leeren Rängen gibt es packende Zweikämpfe, glänzende Spielzüge, fantastische Tore und echte Emotionen - die ganze Magie einer Sportart, die Menschen aus aller Welt zusammenbringt.“
Der Rasen ist nichts anderes als das Fließband
Mit den Gründen für die Wiederaufnahme der Bundesliga beschäftigt sich Sme:
„Deutschland hat eine Lawine losgetreten. Andere Länder werden folgen. Die Fußballer selbst begrüßen nahezu hundertprozentig den Neuanfang. ... Darüber hinaus ist Fußball ihr Lebensunterhalt. Mönchengladbachs Sportdirektor, Max Eberl, hat es auf den Punkt gebracht: Corona hin, Corona her - das Geschäft muss weitergehen. Und er verwahrte sich gegen pauschale Kritik. Der Fußballrasen sei nichts anderes als das Fließband bei VW, die Flugzeuge der Lufthansa oder ein Stuhl in einem Friseursalon. Es gehe nicht nur um tausende Spieler, sondern auch um eine Branche mit 55.000 Arbeitsplätzen, die ebenfalls gerettet werden müssten.“
Der Sport holt uns in die Corona-Realität
Eine Vorbild- und Innovationsfunktion erhofft sich vom Fußball Le Temps:
„Als eine stark mit Tradition, Routine und Vermittlung verknüpfte Aktivität helfen uns [die Geisterspiele], unsere neuen gesellschaftlichen Normen zu begreifen. Die Ersatzspieler, die mit Abstand auf der Bank sitzen - das sind wir morgen im Zug. Keine Umarmungen mehr. … Der Fußball hat unter verstümmelten Bedingungen wieder losgelegt, so wie auch Restaurants ohne Geselligkeit wieder öffnen: Sie bieten das Materielle, aber nicht die Stimmung. Der Sport in Zeiten von Covid-19 brütet auch über der Welt von morgen. Ligen und Clubs werden an kontaktlosen Tickets tüfteln, an der Steuerung von Personenströmen, an neuen Geschäftsbeziehungen, an der Umorganisation des Empfangs, an der Entwicklung neuer Technologien, die uns so nützlich sein werden wie heute bereits GPS und ABS.“