Stichwahl in Polen: Was steht auf dem Spiel?
Umfragen prognostizieren für die Stichwahl um die polnische Präsidentschaft am Sonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Im ersten Wahlgang hatte der rechtskonservative Amtsinhaber Andrzej Duda 43,5 Prozent erreicht, sein Herausforderer, der liberale Bürgermeister von Warschau Rafał Trzaskowski, 30,5 Prozent. In Polen ebenso wie im Ausland blicken Kommentatoren nervös auf die Wahl.
Am Rande des Abgrunds
Für Gazeta Wyborcza hat sich der Amtsinhaber als Präsident disqualifiziert:
„Andrzej Duda, ein Werkzeug der PiS, sollte die Verfassung schützen - aber er bricht sie. Er sollte Polen zusammenbringen - aber er sät Hass und Verachtung für Minderheiten. Er sollte den Staat mit Würde vertreten - aber seine Entscheidungen, Gesten und Tiraden tun das Gegenteil. ... Wir müssen freundlich mit unseren Mitmenschen sprechen, ihnen zuhören und sie davon überzeugen, für einen demokratischen Kandidaten zu stimmen. 'Wahlen' finden auch in Ungarn und Belarus statt und es gibt sogar 'Referenden' in Russland. Man weiß immer, wer gewinnen wird. Die Wiederwahl von Duda würde bedeuten, dass es so bald auch in Polen sein kann. Wir stehen am Abgrund.“
Wir sind immer noch eine Nation
Rzeczpospolita-Redakteur Bogusław Chrabota ruft zur Gelassenheit auf:
„Lassen Sie uns bitte die Wahl des Staatsoberhauptes respektieren, wer auch immer in dieses Amt gewählt wird. Eine aufgeheizte Stimmung kann für einen Konflikt sorgen, dem etwas zu Opfer fällt, das viel wichtiger ist als das Interesse einer Partei. Ich spreche von der polnischen Gemeinschaft. Diese Wahlen werden nichts an der Tatsache ändern, dass wir eine Nation sind und in der Lage sein müssen, miteinander zu sprechen. Wir müssen das gegenseitige Verständnis suchen. Ich glaube, dass das immer noch möglich ist.“
Politische Mäßigung ist lebenswichtig
Der Wahlausgang entscheidet über Polens Demokratie und seinen Platz auf der Weltbühne, glaubt Financial Times:
„Es wird in den Händen des nächsten Präsidenten liegen, die kontroverse Regierungspolitik der letzten fünf Jahre, die Polens sonst so beeindruckende Bilanz seit dem Abschütteln des Kommunismus im Jahr 1989 trübte, entweder weiterzutreiben oder zu stoppen. ... Die Gefahr besteht, dass Duda in einer zweiten fünfjährigen Amtszeit einen noch radikaleren Angriff der PiS auf die Rechtsstaatlichkeit befördert. Das würde Polens Ansehen bei vielen EU-Partnern und - im Falle eines Siegs von Joe Biden über Trump bei den US-Wahlen im November - möglicherweise auch in Washington schaden. Für Polen ist politische Mäßigung mehr als nur ein Wert. Es ist eine Rückversicherung für seine Sicherheitsbelange in der Welt.“
Die Enttäuschung entlädt sich
Dass Andrzej Duda den ersten Wahlgang für sich entschieden hat, wundert Journalist Boyan Stanislawski auf Baricada nicht:
„Die Wähler Andrzej Dudas gehören zu denen, die zutiefst enttäuscht sind und das Vertrauen in die Institutionen und generell ins System verloren haben. … Die PiS und Duda versuchen auf sehr aggressive Weise, die Dinge wieder auf den alten Kurs zu bringen. Nicht zufällig zieht genau dieses rückwärtsgewandte Profil viele Menschen an - nach all den Jahrzehnten, die von der Ideologie des Individualismus und des persönlichen Erfolgs beherrscht wurden. Nach 1989 war die wichtigste Devise: 'Werde reich'. Sie können sich vorstellen, dass nicht alle diesen Rat beherzigen konnten. Es hat sich ein Gefühl von Betrübnis in der Gesellschaft angestaut, das sich letztlich in der Stimmabgabe für die PiS Bahn bricht.“
Angst gegen Angst
Krytyka Polityczna sieht vor allem einen Grund, der die Menschen an die Urnen treibt:
„Eine Wählergruppe hat Angst vor dem Fall der Demokratie, der Isolation Polens in der EU oder der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die zweite Gruppe befürchtet, die in den letzten Jahren erzielte wirtschaftliche Sicherheit zu verlieren, oder dass die polnische Politik ausländischen Interessen untergeordnet wird. ... Davon abgesehen, inwieweit diese Bedrohungen real sind: Die Angst vor ihnen ist definitiv real. Wir haben also zwei Gruppen, die nicht im geringsten gemeinsame Perspektiven aufbauen können. Wenn sie sich gegenüberstehen würden, könnten beide Gruppen singen: 'Meine Angst ist besser als deine!'“
Dudas Blick könnte noch weiter nach rechts wandern
Dass die rechtsradikale Konföderationen-Partei um Krzysztof Bosak im ersten Wahlgang so stark abgeschnitten hat, dürfte auch die Stichwahl beeinflussen, analysiert Ukrajinska Prawda:
„Die Gesellschaft umzingelt die Wählerschaft der 'Konföderation' gewissermaßen, indem sie sie als marginal oder als Faschisten brandmarkt. ... Dies führt jedoch keineswegs dazu, dass die Anhänger von Bosak ihre politischen Ansichten überdenken. ... Da die Auseinandersetzungen vor der Stichwahl an Schärfe zunehmen werden, sollte man über eine ganz einfache Frage nachdenken: Wie wird Andrzej Duda versuchen, die Bosak-Wählerschaft an sich zu ziehen? Schließlich wird man vor der Stichwahl auf sie und auf die Unentschiedenen setzen. Bedeutet das nicht, dass Slogans, die bisher als politisch nicht korrekt galten, nun in den Wahlkampf übernommen werden?“