EU auf der Suche nach einer Position zu Belarus
Wegen der Massenproteste in Belarus beraten die EU-Staats- und Regierungschefs am heutigen Mittwoch auf einem Sondergipfel. Kurz vor Beginn der Videokonferenz warnte Russlands Präsident Putin vor einer Einmischung des Auslands in Belarus. Was kann die EU tun, um die Lage im Land zu deeskalieren?
Freiheitliche Welt muss Russland die Stirn bieten
Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen entschiedene Schritte beschließen, fordert Deutsche Welle Rumänien:
„Fromme Wünsche der EU reichen nicht aus, um die Krise zu lösen. Auch keine vagen und vorsichtigen Appelle zur Gewaltlosigkeit, wie sie jetzt Angela Merkel ausgesprochen hat. ... Die größte Frechheit ist, dass Putin Merkel erklärte - und nicht umgekehrt -, dass eine Einmischung in Belarus inakzeptabel ist und eine Eskalation auslösen könnte. Ein solches Theater ist dem Heldentum der Menschen in Belarus unwürdig. … Doch ist die freiheitliche Welt auch zu etwas anderem fähig, als nur ihre Nacktheit mit einem Feigenblatt zu bedecken? Wird sie es schaffen, nicht nur Sanktionen zu verabschieden, die auf die belarusischen Amtsträger abzielen, sondern auch neue Sanktionen gegen Russland, sollte Putin einschreiten wie auf der Krim?“
Nicht zum geopolitischen Spielball machen
Der Konfliktforscher Christoph Bilban warnt in der Wiener Zeitung davor, die Situation in Belarus als Ost-West-Konflikt zu deuten:
„Die Reaktion des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Hilfegesuche aus Minsk am Wochenende war eine deutliche - wenn auch verklausulierte - Absage: keine Hilfe, außer bei einem militärischen Angriff von außen. ... Zugleich nehmen aber die Stimmen jener europäischen Politiker und Intellektuellen zu, die die belarussische Demokratiebewegung mit einer pro-westlichen Ausrichtung des Landes diskursiv verknüpfen (wollen). Dabei geht es den Menschen nicht um eine Zugehörigkeit zu West oder Ost, sondern um Mitbestimmung, Grundfreiheiten und eine bessere Zukunft. ... Den laufenden Machtkampf in Minsk zum geopolitischen Spielball zu machen, ist ... weder für europäische Staaten (oder die USA) noch für Russland ratsam.“
Moskau sollte Wandel organisieren
Nicht die EU, sondern Russland sollte den Weg für den Machtwechsel in Belarus bereiten, fordert Radio Kommersant FM:
„Das Wichtigste ist jetzt, ein Gewaltszenario und eine Spaltung der Armee und der Staatsorgane in Anhänger und Gegner des scheidenden Präsidenten zu verhindern, um die einst ruhigste Ex-Sowjetrepublik nicht in den Bürgerkrieg zu treiben. Solange Zeit ist, muss eine 'Road map' zur Überwindung der Krise erstellt werden. Moskau kann dabei eine entscheidende Rolle spielen, als Garant dafür dass die Vereinbarungen zwischen scheidender Staatsmacht und aufbegehrenden Gesellschaftsteilen eingehalten werden. Belarus ist zu wichtig für Russland, um die Situation sich selbst zu überlassen und einem sich krampfhaft an die Macht klammernden Menschen mit Realitätsverlust zu erlauben, alles in die Katastrophe zu treiben.“
Behutsam ins Wespennest stechen
Die EU kann in der Belarus-Krise nicht länger wegschauen, mahnt De Standaard:
„Kann Brüssel der Opposition helfen, den Diktator Alexander Lukaschenko aus dem Sattel zu heben? Und wenn ja, wie genau? Wie viele Vorsichtsmaßnahmen müssen ergriffen werden, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht vor den Kopf zu stoßen? ... Und welche Rolle spielen im Hintergrund die Nato und die USA? ... Belarus droht zu einem komplizierten Wespennest zu werden, bei dem man behutsam vorgehen muss. Aber die Lage ist nun derartig eskaliert, dass eine Fortsetzung des Regimes von Lukaschenko nur schwer vertretbar ist. Der Auftrag der EU-Staats- und Regierungschefs ist schwierig, aber die europäischen Werte geben deutlich die Richtung vor: Demokratie fördern und Blutvergießen verhindern. Wegschauen ist keine Option.“
Die Zeit drängt
Der Standard ruft die Opposition zur Vorsicht und die EU zum raschen Handeln auf:
„Die bisher ausschließlich friedliche belarussische Opposition darf jedenfalls für die Diktatoren in Minsk und Moskau keinen Vorwand des 'Komplotts mit dem Westen' für eine Intervention liefern. ... Die EU hat keine Mittel, der demokratischen Opposition direkt zu helfen. ... Sie sollte ... Neuwahlen mit der Zulassung von internationalen Beobachtern fordern und schmerzhafte Sanktionen beschließen. Die Zeit drängt, weil die Dynamik der Proteste gegen einen geschwächten, aber zu allem fähigen Herrscher jederzeit verhängnisvolle Folgen, sogar ein Blutbad auslösen könnte.“
Schluss mit der Trägheit!
Zu viele Staaten haben bisher nur Rügen und Appelle ausgesprochen, kritisiert Delfi:
„Deutschland, Frankreich, Großbritannien und sogar die USA haben zwar die Brutalität verurteilt, aber darauf folgten keine Taten. Die EU stand schlaff da und die Ukraine hat sich ganz klein gemacht. ... Der Westen hätte eigentlich viele Hebel, die er betätigen könnte. Lukaschenkos Umfeld wäscht sein Geld in den Finanzzentren im Westen und genießt die Urlaube in westlichen Kurorten (besonders beliebt ist Österreich). Es wäre nicht übertrieben, seinen Besitz im Westen einzufrieren oder zu konfiszieren - im Gegenteil: Das würde endlich die Ära der beschämenden Tatenlosigkeit beenden. Es ist zu spät, den wegen der Passivität in der Vergangenheit entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Es ist aber nicht zu spät, um doch noch zu handeln.“
EU kann Putin aus dem Dilemma helfen
Die EU hat durchaus eine Chance, bei einem friedlichen Regimewechsel zu helfen, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Der Ansatzpunkt für die EU liegt darin, dass es aus der Sicht des Kremls nur noch schlechte Optionen gibt. Er muss überlegen, was für ihn mit den größeren Gefahren und Kosten verbunden ist: Lukaschenka im Amt zu halten oder eine erfolgreiche Revolution beim engsten Verbündeten zuzulassen? Auf diese Abwägung hat die EU durchaus Einfluss - und zwar nicht nur durch die Warnung vor einem Eingreifen, sondern auch mit der Suche nach einem Ausweg. Hinter einer solchen Initiative muss das nötige politische Gewicht stehen. Deshalb ist es gut, dass die EU nun einen Sondergipfel zu Belarus abhält.“
Wirklich etwas tun will niemand
Das Interesse der EU an Belarus hält sich in Grenzen, glaubt Il Manifesto:
„Belarus ist Transitland für russische Pipelines. Dies garantiert Minsk Energielieferungen unter dem Marktpreis. Im Gegenzug exportiert Belarus Milchprodukte, Güterverkehrsmittel und Schuhe in die Russische Föderation. Produkte, die in Bezug auf Standards und Qualität praktisch unmöglich in den westlichen Markt zu exportieren sind. Trotz der Tatsache, dass das EU-Parlament gestern Lukaschenko zur 'Persona non grata' erklärte und die Machtübergabe an Tichanowskaja forderte, scheint die EU nicht so sehr darauf erpicht zu sein, einem armen Land mit einer überschuldeten Industrie und einer öffentlichen Meinung, die nicht als antirussisch bezeichnet werden kann, unter die Arme zu greifen.“