Corona-Hilfspaket: Ein gordischer Knoten?
Der Streit über den EU-Haushalt 2021 bis 2027 und den damit verbundenen Corona-Wiederaufbaufonds geht weiter. Das Europaparlament hat einen Kompromissvorschlag Berlins zurückgewiesen, Polens Vize-Regierungschef Kaczyński droht mit einem Veto. Der Knackpunkt: Sollen Ländern, die Rechtsstaatkriterien verletzen, Gelder gestrichen werden? Kommentatoren stimmt nicht nur dieses Tauziehen nachdenklich.
Wir können nicht eine Säule der EU einreißen
Giuliano Pisapia von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten verteidigt in Corriere della Sera die kompromisslose Haltung des EU-Parlaments:
„Die Gefahr eines Bruchs zwischen den europäischen Institutionen wird immer aktueller und konkreter. Doch kann diese Gefahr keinesfalls dem Europäischen Parlament angelastet werden, das seine Pflicht getan hat und tut, ohne zu vergessen, dass die Rechtsstaatlichkeit eine der Säulen ist, auf denen die EU beruht. Wie glaubwürdig können diejenigen sein, die Wirtschaftssanktionen für Nicht-EU-Länder androhen, weil diese die demokratischen Prinzipien nicht respektieren, und gleichzeitig nicht die Kraft und den Mut haben, die gleichen Sanktionen gegen diejenigen anzuwenden, die Teil der 'europäischen Familie' sind?“
Fast schon ein Kreuzzug
Rzeczpospolita glaubt zu wissen, wie es so weit kommen konnte:
„Die negativen und nicht immer fairen Einschätzungen der politischen Situation in Warschau und Budapest, die im Laufe der Jahre in den westlichen Medien oft wiederholt wurden, überzeugten Politiker in Schweden, den Niederlanden, Finnland und Dänemark, aber auch Mitglieder des Europäischen Parlaments, dass sie eine Mission zur Verteidigung der Demokratie in Polen und Ungarn führen müssen. Dies löst in beiden Hauptstädten eine harte Reaktion aus, einschließlich der Androhung des Vetos durch Jarosław Kaczyński in einem Interview an diesem Dienstag.“
Jetzt bloß nicht den Anschluss verlieren
Diário de Notícias fürchtet, dass einige Länder, Hilfspakete hin oder her, beim Wiederaufbau das Nachsehen haben werden:
„Staaten, die stärker von Industrien abhängen, deren Erholung länger dauern wird, müssen mehr für die Abfederung der sozialen Folgen der Krise ausgeben. Und diejenigen, die mehr alte Schwächen haben, werden länger brauchen, um den Sprung zu machen, den Europa für die grüne und digitale Wende wünscht. Es zeigt sich, dass in einigen Ländern, so wie in Portugal, beide Umstände zusammenfallen. Wir haben eine Wirtschaft, die dieser Krise stärker ausgesetzt ist, und wir sind weniger reaktionsfähig. Wobei wir für den ersten Punkt kaum Verantwortung tragen - für den zweiten aber ganz offensichtlich schon.“
Angriff auf das Fundament der EU
Kaczyńskis Drohung sollte ernst genommen werden, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Sie ist ein Versuch, mit Hilfe eines Sprengsatzes am Fundament der EU zu erreichen, dass Polen von der Achtung aller Werte und Regeln befreit wird, welche die EU bisher auszeichnen. Stellen sich die anderen Mitgliedstaaten diesem Erpressungsversuch nicht entschieden entgegen, dann ist mittel- und langfristig viel mehr in Gefahr als ein Haushaltsplan. Sollte die EU irgendwann tatsächlich scheitern, dann nicht wegen Brüsseler 'Bürokraten', sondern wegen Politikern vom Schlage Kaczynskis.“
Der falsche Moment für ein Pokerspiel
Wer die Themen Rechtsstaatlichkeit und Wiederaufbau miteinander verknüpft, spielt mit dem Feuer, befürchtet La Vanguardia:
„Das Risiko, dass eine Blockade des großen europäischen Wiederaufbauprojekts Armut und Arbeitslosigkeit auf dem Kontinent verursacht, ist zu hoch. ... Die EU hat andere Mechanismen, um Druck auszuüben, die sie bereits in der Vergangenheit hätte anwenden können oder in der Zukunft nutzen kann. Jetzt ist der falsche Moment, beide Dinge zu vermischen, denn die wirtschaftliche Lage und die Situation auf dem Arbeitsmarkt sind in vielen Ländern kritisch.“
Das kann zum Polexit führen
Gazeta Wyborcza fürchtet, dass die Geschichte für Polen ein schlechtes Ende nimmt:
„Die Umsetzung der Erklärung Kaczyńskis bedeutet für Polen praktisch einen Polexit und einen Verlust von Geldern. Mitten in der Wirtschaftskrise werden wir mit unseren Problemen allein sein, und, wenn Joe Biden zudem die US-Wahl gewinnt, ohne geopolitische Verbündete. Der Albtraum, den wir seit Jahren verdrängen, wird Wirklichkeit. Das ist eine Katastrophe für unser Land, insbesondere angesichts der zweiten Welle der Pandemie. Für Kaczyński wiegen der Hass gegen LGBT-Personen und die Abhängigkeit der Gerichte von der Regierung schwerer als das Schicksal des polnischen Staats und seiner Bürger.“