Gemischtes Echo auf von der Leyens Rede
Ein neuer Migrationspakt, Reform von WHO und WTO, strengere Klimaziele und die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip: In ihrer Rede zur Lage der EU am Mittwoch hatte Ursula von der Leyen viele Forderungen. Lobenswerter Ehrgeiz der Kommissionspräsidentin oder ein allzu diffuser Rundumschlag?
Endlich weg von der Konsens-Blockade
Der Vorschlag zur teilweisen Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips findet bei Turun Sanomat uneingeschränkte Zustimmung:
„Die vielleicht wichtigste Stellungnahme in der Rede betrifft die Entscheidungsfindung der EU. Im Europäischen Rat ist dafür in vielen Fällen Einstimmigkeit nötig. Dies führt häufig zu zahnlosen Kompromissen, deren Aushandlung Zeit kostet. … Die Kommissionspräsidentin hält es verständlicherweise für nötig, Beschlüsse durch qualifizierte Mehrheiten zu treffen. Dies würde die Arbeit der Kommission teilweise vereinfachen und ihren Einfluss stärken. In ihrer Rede erklärte von der Leyen, dass die Mitgliedstaaten mutig sein müssten und zumindest bei Menschenrechtsfragen und in der Flüchtlingspolitik endlich zu Mehrheitsentscheidungen wechseln sollten. Dieser Vorschlag ist ganz im Sinne Finnlands.“
Nicht um den heißen Brei herumgeredet
Ta Nea lobt von der Leyen:
„Wir haben uns daran gewöhnt, die EU-Bürokraten und ihre Angelegenheiten mit wohlwollender Langeweile zu betrachten. ... Die Rede der Kommissionspräsidentin war jedoch außerordentlich politisch, gehaltvoll und ehrgeizig. Von der Leyen hat auch bei zwei Themen, die Griechenland sehr beunruhigen, nicht mit deutlichen Worten gespart. Sie benannte die zunehmende Kluft zwischen der EU und der Türkei. In Bezug auf die Flüchtlingsfrage und die Situation in Moria erklärte sie, dass die Dublin-Verordnung durch ein neues europäisches Migrationsmanagement ersetzt werden muss. Und dass Griechenland und Zypern sowohl im griechisch-türkischen Konflikt als auch in der Migrationsfrage auf die uneingeschränkte Solidarität der EU zählen können.“
Allzu viel Eiertanz
Népszava hätte sich eine klarere Kante gegen Mitgliedstaaten gewünscht, die die Grundwerte der EU verletzen:
„Ursula von der Leyen laviert zwischen den Mitgliedstaaten: Nettozahlern und Nettoempfängern, den Ländern, die zur Flüchtlingsaufnahme bereit sind und den Visegrád-Staaten und allen anderen, die das ablehnen. In einer EU, die normal funktioniert, wäre diese Politik vollkommen logisch. Doch jetzt bräuchte man eine Kommissionspräsidentin, die den Mitgliedstaaten, die gegen die Grundwerte der EU regelmäßig verstoßen, mit starker Hand zeigt, wo die Grenzen liegen. Von der Leyen hat das bisher kein einziges Mal getan, die ungarische und die polnische Regierung machen, was sie wollen.“
Populisten keine Angriffsfläche bieten
Die finanziellen Belastungen durch Klima- und Umweltschutzmaßnahmen müssen gerecht unter den Mitgliedsstaaten verteilt werden, mahnt De Volkskrant:
„Eine saubere Umwelt liegt im Interesse aller Europäer. Auf Dauer nützen alte Industrieanlagen, schlecht isolierte Häuser und eine überhitzte Erde niemandem. Entscheidend aber ist, dass die Kosten des Übergangs zu einer grüneren Wirtschaft gerecht verteilt werden – sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder. Ohne eine ehrliche Verteilung der Lasten können die Themen Klima und Umwelt zu leicht vereinnahmt werden von den Populisten, die einen Kulturkampf gegen Europa führen. Die Kommission versucht zu Recht, diesem Problem mit einem Übergangs-Fonds für arme Regionen zu begegnen.“
Die lang erhoffte Wende
La Stampa freut sich insbesondere über die Ankündigung, das Dublin-System zu revidieren:
„Böswillig könnte man sagen, dass es einer Pandemie mit Hunderttausenden von Todesopfern bedurfte, bis Europa sich zu einem Kurwechsel entschließen konnte. Doch es ist geschehen. ... Zunächst vollzog er sich in der Wirtschaft und gestern brachte er dann die Überraschung, die eine große Hilfe für Italien (und nicht nur für Italien) darstellt. … Präsidentin Ursula von der Leyen kündigte in ihrer Rede zur Lage der Union an, dass die berüchtigte Dublin-Verordnung abgeschafft und durch eine neue Regelung ersetzt werden soll. Die Tatsache, dass beschlossen wurde, den Ländern der Erstankunft die Bewältigung eines so komplexen (und politisch heimtückischen) Phänomens abzunehmen, erscheint als eine ausgezeichnete Nachricht.“
Brüssel weckt Hoffnungen
Von der Leyen hat den ungewöhnlichen Zeitgeist gut getroffen, kommentiert der Experte für Europapolitik Dumitru Oprițoiu in Contributors:
„Die Europäische Union befindet sich im Spannungsfeld zwischen den Konsequenzen der COVID-19-Krise und den Chancen, die der EU-Konjunkturplan bringt. ... Die Entscheidung, den wirtschaftlichen Wiederaufbau durch gemeinsame Schulden zu finanzieren, ist wohl von der gleichen historischen Tragweite wie die Pandemie selbst. Und die Vorschläge der Kommission für einen grünen, aber auch den digitalen Wandel haben das Potenzial, das Leben der europäischen Bürger auf spektakuläre Weise zu verändern. Ursula von der Leyen ist es gelungen, in ihrer ersten Rede zur Lage der Union Hoffnung auf einen Wiederaufschwung zu schüren, die durch mehr Einheit und Solidarität der Union getragen wird.“
Kein ehrlicher Bericht
Von der Leyens Auftritt habe sich deutlich von den blassen Reden ihres Vorgängers Juncker abgehoben, lobt Sme, hinterlasse jedoch trotzdem Fragen:
„So fehlte beispielsweise ein Konzept zur Demografie. Wer soll die ambitionierten Ziele erreichen? Die Rede von der Leyens erweckte den Eindruck, dass die EU eine Art neues Projekt für die europäische Jugend sei. Wir müssen aber bedenken, dass Europa ein alternder Kontinent ist. Die letzte Wahl zum Europaparlament wurde von den älteren Wählern entschieden. Auch das Thema Migration lässt sich nicht nur über Anekdoten von einem Flüchtling abhandeln, der jetzt Student einer angesehenen medizinischen Fakultät ist. Es gibt auch ganz andere Flüchtlinge. ... Zu einem ehrlichen Bericht über den Zustand der EU gehört auch, dass es Bilder aus entvölkerten Regionen gibt, in denen nicht nur schnelles Internet fehlt, sondern absolut alles.“
Klare Positionen fehlen
In ihren Aussagen zur Geopolitik ist von der Leyen ziemlich vage geblieben, findet die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Sie will die Weltgesundheits- und Welthandelsorganisation reformieren. Aber wie? Sie will an der Seite der belarussischen Bevölkerung stehen. Aber was hat sie anzubieten? Kryptisch blieb ihr Kommentar zur umstrittenen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2: Russland zeige mit seinen Giftanschlägen stets das gleiche Muster, keine Pipeline werde daran etwas ändern. Das aber haben selbst die Befürworter des Projekts nie behauptet. Auch zur Türkei fiel von der Leyen nicht mehr ein als eine Mahnung zur Deeskalation. Die Regierungschefs müssen nächste Woche entscheiden, welchen Kurs sie gegenüber dem Land einschlagen. Von einer Kommission mit geopolitischem Anspruch darf man erwarten, dass sie Position bezieht.“
Wo bleibt die Selbstkritik?
Diese Rede war weder besonders innovativ noch mutig, kritisiert El País:
„In dem Gemisch aus Anspielungen auf diverse Themen hat es die Präsidentin immerhin geschafft, ihre Botschaft zu vermitteln: Die Europäische Union wird ihre zentralen Ziele hartnäckig weiterverfolgen. Zum Beispiel die Strategie des Green Deal. ... Bei allem Mut zeigte sie aber trotzdem Schwäche in anderen Angelegenheiten: der schwerwiegenden, populistischen Herausforderung in Großbritannien, dem armseligen Resultat der europäischen Koordination in verschiedenen Phasen der Pandemie oder der Nebulosität der Kommission beim Migrations-Skandal. All das hätte Selbstkritik und Kritik verdient. Die haben wir vermisst.“