US-Wahl: Europa blickt nach Washington
Trump und Biden haben am Wochenende um die Stimmen der letzten Unentschlossenen geworben. In den Prognosen führt weiterhin Biden, allerdings ist sein Vorsprung zuletzt in einigen Staaten geschrumpft. In Iowa, wo er lange vorne lag, hat Trump ihn gar überholt. Kommentatoren skizzieren Folgen der Wahl für Europa – und warnen, dass mit einem Sieg Bidens nicht alles wieder gut würde.
Hoffen auf den Neustart
Die Welt verspricht sich viel von einem Sieg Bidens, analysiert Novi list:
„Alle erwarten neue, kooperativere Töne von der amerikanischen Politik, sollte es zu einem Machtwechsel im Weißen Haus kommen. Man hofft auf weniger Autismus, Egozentrik und voreilige Entscheidungen - und mehr Bereitschaft zur Kooperation mit Europa und allen anderen. Dies ist notwendig, da die Welt sich in einer schweren Wirtschafts-, Gesundheits-, und Klimakrise befindet. Ohne engere internationale Zusammenarbeit werden alle Staaten und Nationen mit Sicherheit untergehen, und zwar noch schneller als bisher. Und wenn Trump durch ein Wunder Präsident bleibt, wird selbst er seine Politik ändern müssen.“
Auch dieses Virus wird bleiben
Eine einzige Wahl kann auf dieser Welt nicht allzu viel verändern, warnt hvg:
„Der New Yorker Milliardär stand mit einem guten politischen Gespür der elitenfeindlichen Unzufriedenheit vor, die sich in der Welt und den USA seit vielen Jahren angestaut hat. Der Brexit, der ostmitteleuropäische Illiberalismus, Bolsanaros Brasilien, Erdoğans Türkei und die US-Staaten des mittleren Westens, die Trump bis zum Äußersten unterstützen, sind allesamt Zeichen dafür, dass das Virus zu tief sitzt, um mit einem Wechsel im Weißen Haus geheilt werden zu können. Der Trumpismus kann, wie eine latente Infektion, ohne Trump weiter existieren - auch wenn der Herr des Weißen Hauses bereits Joe Biden heißen wird.“
Dann wäre Trump nicht mehr zu stoppen
Kathimerini-Chefredakteuer Alexis Papachelas blickt besorgt auf einen möglichen Sieg des Amtsinhabers:
„Ein Trump-Sieg wäre eine große Überraschung. Groß wäre auch seine Arroganz, denn es würde bedeuten, dass er trotz aller Schwierigkeiten und seiner Covid-19-Infektion gewinnen konnte. Diesmal würde ihn nichts mehr stoppen. Unabhängig davon, welche außenpolitische Entscheidung er auch treffen mag, es würde kein Hindernis geben, das groß genug wäre, um ihn aufzuhalten. Wie ein wichtiger europäischer Staatschef privat gesagt hat, würde eine zweite Trump-Amtszeit 'wahrscheinlich das Ende des Westens, wie wir ihn kennen, bedeuten'. Eine Biden-Regierung hingegen wäre einer Präsidentschaft im Stil der Zeit vor Trump sehr ähnlich. Mehr oder weniger das klassische amerikanische Establishment auf Autopilot.“
Süßsaure Versuchung
Ria Nowosti geht davon aus, dass die politische Abnabelung der EU-Staaten von den USA auch nach einem Wahlsieg Bidens weitergehen wird:
„Der Kurs hin zu einer gewissen geopolitischen und militärischen Selbstständigkeit ist jetzt Mode in Paris und Berlin. Unter diesen Umständen ist der Brexit ein himmlisches Manna für die EU-Anführer, die sich Washington nicht erneut unterordnen wollen. Denn wenn London fehlt (das gerne wie der Aufseher der USA im europäischen Polit-Straflager auftrat), können Frankreich und Deutschland das ganze restliche Europa in Richtung mehr Souveränität bewegen. Dieser Prozess wird von den Europäern allerdings in einem typisch süßsauren, zynischen Stil zelebriert.“
Auch für die EU werden Weichen gestellt
Seit Jahrzehnten war die US-Wahl nicht mehr so wichtig für Europa wie dieses Mal, analysiert der auf die USA spezialisierte Politologe Gustavo Palomares in eldiario.es:
„Sie betrifft die wichtigsten Punkte der politischen, sozialen und strategischen Ziele der EU, die im Weißbuch für die Zukunft Europas festgelegt sind, das die EU-Kommission mit Blick auf das Jahr 2025 angefertigt hat. Fragen wie der internationale Kampf gegen die Pandemie, der Umgang mit der Situation nach dem Brexit, die Reform der Nato, der Kampf gegen den Dschihadismus, die neue Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingspolitik... all diese (und noch viel mehr) Themen werden entscheidend davon beeinflusst, ob Trump im Weißen Haus bleibt oder nicht.“
China läuft Russland den Rang ab
In Russland wird darüber diskutiert, wie - und ob - sich die US-Wahl auf das zerrüttete bilaterale Verhältnis auswirkt. Chancen für ein Tauwetter sieht kaum jemand, bleibt die Frage, wie wichtig die USA Russland eigentlich noch nehmen. Snob erklärt:
„Für jede US-Administration ist und bleibt China das außenpolitische Problem Nummer eins. Als erster bezeichnete Obama China als Herausforderung, aber mit einer allgemeinen Konfrontationspolitik gegenüber dem Pekinger Regime hat erst Trump begonnen. Sowohl er als auch Biden werden diese Linie fortsetzen. Putins Russland mit seiner traurigen demografischen Entwicklung, seiner rückständigen Wirtschaft und seiner Korruption schafft es nicht mehr, zum Hauptthema des Weißen Hauses zu werden. Aber es reicht noch für Rang zwei, drei oder vier.“
Trumps Verbündete distanzieren sich bereits
Trump hat am Wochenende vor laufenden Kameras mit Israels Premier Netanjahu telefoniert - so dass öffentlich wurde, dass letzterer seine erneute Kandidatur nicht offen unterstützt. Etliche Verbündete wenden sich bereits vom US-Präsidenten ab, beobachtet Kolumnist Pierre Haski auf France Inter:
„Sie bringen sich für die Zukunft in Stellung, die eine Präsidentschaft Bidens bringen könnte. Noch überraschender als bei Netanjahu war es, zu erleben, wie Wladimir Putin am Sonntag Joe Biden und dessen Sohn Hunter verteidigte. … Und das Entscheidende ist, dass ihm offenbar daran liegt, dies bekannt zu machen. … Diese Staatenlenker spüren, wie der Wind sich dreht, und wollen nicht, dass man im Fall eines Siegs Bidens sagt, dass sie im Endspurt gegen ihn gearbeitet hätten. Boris Johnson, der einen Teil seiner Strategie an das Wohl des US-Präsidenten gebunden hat, schweigt, denn er weiß, dass eine Niederlage Trumps auch als seine gedeutet wird.“
Ohne Trump wird die Welt nicht plötzlich besser
Auch wenn Biden gewinnen sollte, bleiben die globalen Herausforderungen, und Europa kann sie nicht einfach auf die USA abschieben, kommentiert Diário de Notícias:
„Viele Europäer glauben, wenn Trump besiegt ist, werde die Welt zu dem geselligen Ort, der sie nie war. Mit fanatischem Hass auf den amerikanischen Präsidenten wollen sie nicht erkennen, dass sie selbst Entscheidungen treffen müssen, vor allem in Bezug auf China, und Verantwortung für das Risikomanagement an ihren Grenzen übernehmen müssen. Trump hat Putin nicht erfunden, keine Spannungen im Nahen Osten und keine Ambitionen im Iran geschaffen und auch China nicht genährt. Der Hass auf Trump ist ein Geisteszustand, keine Politik.“
Angebliche Manipulatoren haben gegensätzliche Ziele
Laut US-Geheimdienstkoordinator John Ratcliffe sollen sich Iran und Russland Zugang zu Wählerregistern verschafft haben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dass die beiden gemeinsame Sache machen, kann sich Radio Kommersant FM nicht vorstellen:
„Nach Angaben der Geheimdienste haben die Russen Zugang zu Wählerlisten und können diese Informationen nun dazu nutzen, um 'Chaos zu säen und das Vertrauen zu untergraben'. Aber es ist schon etwa seltsam, dass Russland in einem Atemzug mit dem Iran genannt wird. Und genauer betrachtet sind die Interessen Moskaus und Teherans bei der Wahl am 3. November völlig gegensätzlich. Uns wäre eher an einer Fortsetzung der Trumpschen Politik des Isolationismus gelegen, den Iranern hingegen an einer Neuauflage des Atomdeals, der unter Obama unterzeichnet und von der aktuellen Administration annulliert wurde. “
Bidens Sieg könnte Türkei Probleme machen
Die Türkei braucht eine Strategie für den Fall, dass Trump die Wahl verliert, kommentiert Daily Sabah:
„Erdoğan und Trump haben es wiederholt geschafft, kritische Spannungen durch feinfühligen diplomatischen Dialog zu bewältigen. Die beiden Staatsführer milderten so verschiedene Probleme zwischen den beiden Ländern erfolgreich ab. ... Bürokratische Akteure, insbesondere das Pentagon, könnten in der kommenden Periode, falls Trump nicht wiedergewählt wird, einige Herausforderungen für die Türkei schaffen. Das könnte ein Spiegel der Spannungen zwischen den US-Institutionen sein und negative Konsequenzen für die Türkei haben. Der Grundstein in Ankaras neuem Plan für Washington sollte sein, die Beziehungen mit mehreren Akteuren zu verbessern.“