Soziale Medien außer Kontrolle?
Drei Tage nach dem Sturm auf das Kapitol hat Twitter Donald Trumps privaten Account dauerhaft gesperrt. Als Begründung nannte das Unternehmen am Samstag das Risiko einer Anstiftung zu weiterer Gewalt. Für Europas Presse ist die Angelegenheit damit aber noch lange nicht erledigt. Sie fragt, ob eine konstruktive Debatte in den sozialen Medien vielleicht nur hehrer Wunsch ist.
Meinungsfreiheit schützen heißt, sie begrenzen
Für La Libre Belgique zeigt sich der Handlungsbedarf in Sachen Regulierung der sozialen Medien:
„Während wir die Tatsache begrüßen, dass jeder Bürger eine Plattform finden kann, um seine Meinung zu allem und jedem zu äußern, ist es ebenso wichtig, diese Meinungsfreiheit zu schützen - und das bedeutet, sie einzugrenzen. Wie andere Medien übernehmen auch soziale Netzwerke redaktionelle Verantwortung und müssen daher einem Mindestmaß an Regulierung unterworfen werden. Denn wer Inhalte verbreiten will, muss für sie geradestehen, insbesondere wenn komplexe Algorithmen bestimmte Veröffentlichungen begünstigen. Trumps turbulenter Abgang hat zumindest die Gefahr aufgezeigt, die davon ausgeht, wenn die Meinungsfreiheit von einer Handvoll amerikanischer Netzgiganten verwaltet wird.“
Prinzipienlose Tech-Giganten
Expressen warnt vor Willkür und ungleichen Maßstäben, wenn die globale Debatte von der Westküste der USA aus gesteuert wird:
„Die einheimischen Politiker knöpft man sich eifrig vor, aber das Twitterkonto von Ayatollah Khamenei ist noch nicht gelöscht, trotz Beiträgen, wonach Israel ausgelöscht gehört. ... Nur weil die Netz-Riesen Trump sperren, verschwindet diese Problematik noch lange nicht, ebenso wenig wie die Algorithmen, die polarisierende Beiträge und glatte Lügen belohnen. Eine einfache Lösung gibt es nicht. Stärkere politische Kontrolle der sozialen Medien birgt ja die Gefahr, dass Wirrköpfe wie Trump mehr Macht über diese erlangen. Aber all jene, die nun vorbehaltlos über die Sperrung des Präsidenten jubeln, sollten überlegen, welche Politiker die prinzipienlosen Tech-Giganten vielleicht sperren, wenn der politische Wind sich dreht.“
Hilflose Zensur via Algorithmus
Schätzungen zufolge erfolgten auf Facebook 2018 pro Minute 500.000 Posts. Kein Wunder, dass es bis heute weder Facebook noch Twitter gelungen ist, dieser Flut Herr zu werden, meint Contributors:
„Eine perfekte Moderation dieser kakophonen Informationslawine durch Menschen ist unmöglich, egal wie viel investiert wird. Doch die Algorithmen sind ebenso unvollkommen. ... Die Moderatoren können nur selten die Situation klären, die Mitarbeiter sind vom Arbeitsvolumen völlig überfordert. Es scheint, dass hinter dem beseelten Diskurs über die wunderbaren Technologien, die vorwegnehmen, was ich morgen denken werde, in Wirklichkeit ein verzweifelter Kampf steht, den Informationsfluss mit eher rudimentären Tools einzudämmen, die beispielsweise auf Stichwort-basierter automatischer Zensur basieren.“
Training für die demokratische Muskulatur
Die Debatte darüber, ob und unter welchen Bedingungen Nutzer von sozialen Netzwerken gesperrt werden dürfen, zeugt von einem lebendigen demokratischen Geist, findet El Periódico de Catalunya:
„Wir sollten stolz darauf sein, dass wir zu den Gesellschaften gehören, in denen es notwendig ist, diese Art von Debatten zu führen. Sie trainieren die Muskulatur des demokratischen Geistes und fördern seine praktische Anwendung. Leider gibt es zu viele autoritäre Regime, in denen solche Reflexionen sinnlos sind. Denn dort erfolgen sie unter dem Joch der Zensur und der Repression von Kritikern.“
Schwieriger Balanceakt
Hier wird ein Dilemma der Demokratie deutlich, betont Berlingske:
„Es geht um eine Frage, die für ein demokratisches Land ebenso kreuzgefährlich wie essentiell ist: Haben die extremen politischen Flügel das Recht, zu Wort zu kommen, und wer bestimmt die Grenzen dessen, was man in sozialen Medien diskutieren darf? ... Einerseits ist es problematisch, wenn Verschwörungstheorien sowie Aufrufe zu Gewalt und zu Angriffen auf demokratische Institutionen geteilt werden, ohne dass jemand eingreift. ... Andererseits ist ein Eingriff nichts anderes als ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, die westliche Demokratien überall hochhalten. ... Die Grenzen zwischen der Einschränkung der Meinungsfreiheit beispielsweise im Iran und der Sperrung von Teilen sozialer Medien in den USA sind haarfein.“
Ein Widerspruch in sich
Echte Demokraten können die Sperrung nicht gutheißen, argumentiert Le Figaro:
„Viele fordern eine rigorosere Beschränkung von Inhalten auf Online-Plattformen, um gegen 'Hate Speech', Fake News und Verschwörungen vorzugehen. Die meisten dieser Befürworter der Mäßigung sind demokratisch denkende Menschen, die sich als Verteidiger der bürgerlichen Freiheit bezeichnen. Es ist erstaunlich, dass sie den immensen Widerspruch zwischen dieser Forderung nach Zensur (noch dazu durch multinationale Konzerne) und ihren politischen Überzeugungen nicht sehen, und dass sie so blind sind dafür, dass eine Büchse der Pandora geöffnet würde und dies unvermeidlich Exzesse bei der Beschränkung der Freiheit nach sich ziehen würde würde. Dass Trump in dieser Geschichte demokratischer und liberaler war als viele seiner Gegner, zeugt von der unglaublichen, freiheitsbedrohenden Regression der letzten Jahre.“
Gefährlicher Präzedenzfall
Die sozialen Medien dürfen nicht so viel Macht haben, mahnt der Medienwissenschaftler Panagiotis Kakolyris in Protagon:
„Die Social-Media-Plattformen sind, was Habermas heute als 'öffentliche Sphäre' definieren würde. ... Sie sind die digitale Version des antiken griechischen Marktes, der sich oft in eine römische Arena verwandelt. Wie kommen Facebook und Twitter dazu, einen Politiker zu blockieren, der gerade 74 Millionen Stimmen erhalten hat? ... Was heute mit dem absolut unsympathischen Trump passiert ist, wird morgen jemand anderem passieren, der zwar vielleicht nicht bei uns Bürgern unbeliebt ist, aber bei einer Führungskraft, die die Macht hat, den 'Löschen'-Knopf zu drücken. Als Bürger können wir das Recht, die Meinungsfreiheit zu kontrollieren, nicht einem unkontrollierbaren Mechanismus überlassen.“
Höchste Zeit
Die Entscheidung war richtig, findet die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Twitter & Co. sind lange zurecht kritisiert worden, zu wenig gegen Hetze zu tun, weshalb sich nun, mit den Bildern aus Washington vor Augen, schwer argumentieren lässt, sie seien zu weit gegangen. Es scheint auch übertrieben, den Ausschluss zu einem Präzedenzfall hochzustilisieren. Trump ist eine singuläre Figur. Und die vergangenen Tage haben unterstrichen, dass seine Art der Nutzung von Online-Plattformen nicht nur krude, sondern explosiv ist. Es war höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen.“
Der einstige Liebling bringt keinen Profit mehr
Der wahre Grund, Trump zu sperren, ist rein wirtschaftlicher Natur, meint Jutarnji list:
„Was hat Trump getan, was er nicht schon früher getan hat, als er noch der Liebling der Netzwerke war? Die Wahlen verloren? Seine Anhänger aufgerufen, im Kongress zu randalieren? Solche Vorkommnisse gab es schon vorher, ohne dass sie Folgen für Trump und seine Anhänger gehabt hätten. ... Twitter, Facebook und andere Plattformen haben Trump nicht nur toleriert, sondern sogar begünstigt, solange seine Lügen und Fantasien Follower, Klicks und Profit brachten. In diesem Moment, da er die Macht verliert und seine Taten den Netzwerken finanziell schaden könnten, wird er zur 'persona non grata', werden seine Profile geschlossen und statuiert Parler ein Exempel. Unfair? Ja, aber egal. Er bringt keinen Gewinn mehr, sondern Schaden. Das ist Kapitalismus, Loser.“