Was ist das Potential der Nawalny-Proteste?
Das zweite Wochenende in Folge haben in Russland Zehntausende gegen Nawalnys Inhaftierung, Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit demonstriert. Die Sicherheitskräfte gingen oft brutal dagegen vor, landesweit wurden über 5.000 Menschen festgenommen. Die Einschätzungen der Proteste durch Beobachter reichen von "werden verpuffen" bis "Zeichen einer Zeitenwende".
Jetzt ein Stück Demokratie zurückholen
Geschichtsprofessor Iwan Kurilla skizziert in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post, was ein realistisches Ziel der Proteste darstellen könnte:
„Kann man jetzt gleich Putins Rücktritt erreichen? Wohl kaum. Aber die Proteste sollten zu echten Zugeständnissen seitens der Staatsmacht führen. Die Proteste von 2011 brachten die Rückkehr der Gouverneurswahlen - zwar in kastrierter Form, aber immerhin. Die aktuellen Proteste sollten zur Wiederherstellung der Verfassungsrechte führen - einschließlich der Versammlungsfreiheit, der Freiheit zur politischen Vereinigung und zur politischen Agitation. Die Proteste könnten sogar die Dumawahlen [im September] zu einer sinnvollen Sache machen. Sie sollten nicht 'einfach so' versanden.“
Es sollte um Freiheit für alle gehen
Vsevolod Kozhemyako, Generaldirektor der ukrainischen Firma Agrotrade, sieht die Proteste nicht als erfolgsversprechend an. Er erklärt im Interview mit NV:
„Ich persönlich mag Nawalny nicht. Aber jeder friedliche Protest in Russland gegen die Macht, die ukrainische Soldaten im Donbass tötet und uns einen Teil des Territoriums weggenommen hat, ist mir natürlich sehr nahe. Wobei ich nicht glaube, dass diese Proteste zu etwas führen werden. Das Regime in Russland ist aktuell stark genug und lässt sich mit dieser Zahl von Demonstranten und dieser Thematik nicht aus den Angeln heben. Die Proteste sind nicht für Freiheit oder Demokratie, sondern für Nawalny. Und solange Protestaktionen personalisiert sind, glaube ich nicht, dass sie zu etwas führen können.“
Größer, jünger, charismatischer
Politikwissenschaftler Dominique Moïsi hingegen zeigt sich in Les Echos hoffnungsvoll, dass ein politischer Umschwung möglich ist:
„Es gibt eine neue politische Realität. Sie ist zurückzuführen auf das zeitliche Zusammentreffen von drei Faktoren: die Persönlichkeit von Nawalny, die Wahl Bidens und Covid-19. Zum ersten Mal wird die Opposition gegen Putin von einem Mann verkörpert, der seinen Mut bewiesen hat und den das Regime ernst nimmt - das Attentat auf ihn ist der beste Beweis dafür. Nawalny ist größer, jünger, attraktiver und charismatischer als Putin. ... Das russische Regime steht zum ersten Mal seit etwas mehr als zwanzig Jahren vor einer echten Bedrohung. … Angesichts dieser komplexen und sich verändernden Situation müssen Europa und die Vereinigten Staaten eine gemeinsame Position gegenüber Moskau definieren.“
Auch die Russen haben genug
Putins Rezepte sind überholt, urteilt Politikwissenschaftler Nadir Devlet auf Independent Türkçe:
„Dass es in Sibirien an vielen Orten trotz minus 60 Grad Kälte Proteste gab, deutet darauf hin, wie sehr das Volk von diesem Regime die Nase voll hat. ... Wie andere Führer auch glaubt Putin, dass er mit Druck und Folter etwas erreichen wird. ... Dem Volk wurde bisher Honig ums Maul geschmiert, seinen nationalen und religiösen Gefühle geschmeichelt, es wurde mit zahllosen 'Fake News' getröstet und mit Geschichten von erfundenen ausländischen Feinden ruhiggestellt. Den Leuten wurde gerade soviel Lohn gezahlt, dass sie nicht hungern mussten. Allerdings scheinen diese Taktiken aufgebraucht. Die Welt hat sich längst auf die Suche nach neuen Führern und Systemen begeben.“
Kreml könnte die Schlacht gewinnen
Außer Nawalny ist niemand mehr übrig, der die Opposition mobilisieren kann, fürchtet der Tages-Anzeiger:
„170'000 Menschen haben sich nach den Grossdemos 2012 registriert, um einen Kopf für die vereinte Opposition zu bestimmen: Die Wahl fiel auf Alexei Nawalny. Doch heute ist ausser ihm faktisch niemand mehr übrig. ... Manche, vor allem unbekanntere Rädelsführer kamen für Jahre in Haft [...]. Einige sind gestorben, Boris Nemzow, einst der grosse Hoffnungsträger der Reformer, wurde ermordet. ... [D]ie Versuchung, den letzten wirklichen Oppositionellen aus dem Verkehr zu ziehen, dürfte gross sein. Bringt man ihn zum Schweigen, ist niemand mehr da, der zum Strassenprotest aufrufen und politischen Druck aufbauen kann.“
Völlig klar, dass es knallt
Der Krimi-Autor Boris Akunin sieht in Echo Moskwy den Kern des Konfliktpotentials in Russland in der Unterdrückung echter parlamentarischer Opposition:
„In einem problematischen Land wird es immer Opposition geben. Sie wird der Staatsmacht unangenehme Fragen stellen und Vorwürfe machen. Wenn es viele solcher Leute gibt und man sie nicht in die Parlamente lässt, dann gehen sie auf die Straße. ... Wenn dann grobe Gewalt angewendet wird, voller Härte und Ungerechtigkeit, bringt das immer mehr Leute gegen die Staatsmacht auf. ... Die Angst stumpft die Menschen ab und verwandelt sich ihrerseits in Verhärtung. Früher oder später kommt es zum Knall - immer. Hört doch auf, Nawalny als Kriminellen darzustellen. Er ist keiner, er ist nur der Oppositionsführer. Registriert endlich seine Partei. ... Soll sie ihre Fragen doch im Parlament stellen und nicht auf der Straße.“
Studententalk statt Trollarmee
Putins bewährte Propaganda-Waffen funktionieren nicht mehr, kommentiert Rzeczpospolita:
„Junge Leute sehen nicht fern, lesen keine Zeitungen und verfolgen die Botschaften der führenden Propagandisten nicht. Sie kennen Nawalny und andere unabhängige Vlogger (der 34-jährige Juri Dud hat über acht Millionen Abonnenten auf YouTube), weil diese ihre Sprache sprechen und in ihrer Welt leben. Der Kreml wird in naher Zukunft um sie kämpfen müssen, denn Jugendproteste haben bereits viele Führer gestürzt. Die Trollarmee ist gescheitert, daher nimmt Putin die Angelegenheit selbst in die Hand. Am Montag sprach er, einer der mächtigsten Menschen der Welt, mit Studenten russischer Universitäten und versuchte fast sechs Minuten lang zu erklären, dass der Palast nicht ihm gehöre.“
Zwischen Empathie, Arroganz und Resignation
Die Ukraine ist gespalten in ihrer Sicht der russischen Oppositionsbewegung, beschreibt NV:
„Für die einen zeigen die Proteste, dass in Russland der gesunde Menschenverstand und die große Unzufriedenheit mit dem Regime Wladimir Putins lebendig sind. Andere meinen, den Protesten fehlten die Massen, sie würden sich zu sehr vom Kyjiwer Maidan 2013/2014 unterscheiden. War man in der Ukraine gegenüber den Protesten in Belarus sehr empathisch und bereit, viel Solidarität zu zeigen, sieht man auf die russischen Proteste eher von oben herab. ... Wiederum eine andere Gruppe glaubt, dass man allmählich das Interesse an der ganzen Geschichte mit Nawalny verlieren sollte. … Diese Leute meinen, wenn Nawalny die politische Situation in Russland hätte ändern können, hätte er das doch schon längst getan.“
Dieser Mann ist kein Einzelkämpfer
Die Leidenschaft und Wut der Demonstranten sollte Putin zu denken geben, meint The Observer:
„Die Geschichte zeigt, dass eine Revolution folgt, wenn die russische Neigung zur Passivität von einem brennenden Bedürfnis nach Wandel überwältigt wird. ... Die Proteste und die grobschlächtigen Versuche, sie zu unterdrücken, werden die russische Gesellschaft weiter spalten. Ihr Zusammenhalt wurde bereits durch chronisches Regierungsversagen und wirtschaftliches Missmanagement untergraben. Die unvermeidlichen Fälschungen bei den im September anstehenden Wahlen werden zusätzlich Druck verursachen. Russland braucht grundlegende politische Reformen, bevor es zerbricht. Nawalny ist nicht einfach eine Person. Er ist eine Bewegung, die nicht zum Schweigen gebracht werden kann. In Russlands Interesse sollte Putin erkennen, dass seine Zeit abgelaufen ist.“
Er hat Informationspluralität geschaffen
Nawalny schlägt Putin mit dessen eigenen Waffen, freut sich Moskau- Korrespondentin Anna Zafesova in La Stampa:
„Prägend für die zwanzigjährige Putin-Ära ist der 'Informationsautoritarismus' - wie ihn der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergej Guriew bezeichnet - ein System, das Wladimir Putin vielleicht als erster patentiert hat. … Ein System, das Unzufriedenheit nicht duldet und dem es gelingt, sie aus dem Radar der öffentlichen Meinung zu entfernen, derweil sie im Verhältnis zur Einhelligkeit der Mehrheit, die von der Propaganda postuliert wird, zu geringfügig ist. Ein solches System bekämpft man, indem man seine virtuelle Realität in Frage stellt. Deshalb hat Alexej Nawalny seinerseits einen Widerstand der alternativen Informationen patentiert. Seine Millionen und Abermillionen von Likes im Netz haben das monolithische Bild des Putinismus erodiert.“
Ein vielversprechender Anfang
Die Proteste stimmen hoffnungsvoll - wenn auch unter Vorbehalt, meint De Volkskrant:
„Die Vehemenz der Demonstranten zeigt, dass nach der Verhaftung Nawalnys noch Hoffnung für die russische Opposition besteht. ... Das Aufkommen war das größte seit Jahren, und dennoch spürt man bei den Demonstranten Zweifel über die Zahlen: '60 Millionen Menschen haben Nawalnys Dokumentarfilm gesehen, wo sind all diese Menschen?', sagte eine erschöpfte Frau am Ende der Demonstration in Moskau. ... Nawalnys Team kündigte sofort neue Demonstrationen an, für nächste Woche Samstag. Um auf den Kreml mehr Eindruck zu machen, wird die Opposition aber Unterstützung brauchen von einer Gruppe, die am Samstag weitgehend zu schweigen beschloss: den Eltern der Demonstranten. “
Politische Basis noch zu klein
Nawalny hat viel Arbeit vor sich, meint Rzeczpospolita:
„Angesichts der geografischen Verteilung der Proteste könnte der Kreml nach den diesjährigen Parlamentswahlen (am 9. September) ernsthafte Probleme bekommen. Besonders dann, wenn sie so abgehalten werden wie die vergangenen. Nawalny muss jetzt schnell vieles aufholen, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Er hat Unterstützer, aber keine politische Basis, die die Tausende überschreitet - in einem Land mit 140 Millionen Einwohnern. Auf jeden Fall haben die Ereignisse am Samstag gezeigt, dass es in Russland keinen Mangel an Menschen gibt, die dazu bereit sind, sich von ihren Knien zu erheben.“
Soziale Medien gehören unter nationale Kontrolle
Die staatliche Agentur Ria Nowosti zeigt sich empört über soziale Netze, die die Protestaktion erst möglich gemacht haben:
„Russland kann sich nicht erlauben, dass auf seinem Gebiet Medienplattformen frei arbeiten, die antistaatliche Propaganda und Aufrufe zu Verbrechen nicht verhindern oder sogar unterstützen. YouTube, Facebook, Twitter, Instagram, Tiktok und alle, die noch kommen sollten, müssen sich widerspruchslos der russischen Gesetzgebung unterstellen. Es geht nicht darum, 'Lösch-Forderungen' zu erfüllen. Sie müssen sich selbst eifrig bemühen, nicht zu Verstößen gegen Russlands Gesetze missbraucht zu werden. Dass das 'russische Facebook' von ukrainischen Staatsbürgern aus Zentren in Warschau und Riga moderiert wird, ist kaum zu glauben und untragbar. “