Astrazeneca-Stopp: Europas Impfkampagne in Gefahr?
Zuletzt auch noch Schweden: Die Liste der EU-Staaten, die Impfungen mit dem Mittel von Astrazeneca vorläufig ausgesetzt haben, wird immer länger. Die Europäische Arzneimittelbehörde Ema will nun bis Donnerstag prüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen einigen Fällen von sehr seltenen Thrombosen und der Impfung gibt. Europas Presse diskutiert den Impfstopp kontrovers - und verweist auf ein Dilemma.
So leistet man Verschwörungstheorien Vorschub
Das Vorgehen ist Wasser auf gefährliche Mühlen, sorgt sich Contrepoints:
„Das Aussetzen ist eine Reaktion der Regierungen auf diejenigen, die durch die Gesundheitskrise am meisten in Panik geraten sind und sich am äußersten Rand des Meinungsspektrums befinden. Es ist ein Geschenk des Himmels für die Impfgegner, die Verschwörungstheoretiker oder, prosaischer ausgedrückt, die radikalen Skeptiker. Sich mit den Impfgegnern zu verbünden, um den Impfstoff zu verbieten, und sei es auch nur vorübergehend, hat nur einen Effekt: die Impfkampagne noch komplizierter zu machen und dem Staat einen zusätzlichen Grund zu geben, im Namen des Kampfes gegen das Virus die Freiheit der Bürger zu beschränken. ... Nach diesem politischen Irrtum wird es schwierig, die Leute davon zu überzeugen, sich freiwillig impfen zu lassen – und wer weiß schon, ob die Regierungen ihre Empfehlung dann nicht zur Pflicht machen?“
Die Pille verursacht seit Jahrzehnten Thrombosen
Auch die Ärztin Vânia Mesquita Machado reagiert in Público entsetzt:
„Es ist eine Sache, vorsichtig zu sein: eine Charge aus dem Verkehr zu nehmen, die Nebenwirkungen und deren Anteil im Verhältnis zum Auftreten in der Bevölkerung abzuwägen. Thromboembolische Phänomene existieren auch in nicht unerheblicher Zahl bei der oralen Empfängnisverhütung, die beispielsweise Millionen von Frauen täglich einnehmen, und niemand ist darüber sehr besorgt. ... Eine andere Sache ist der Tsunami der Angst, der auch Auswirkungen auf Menschen haben wird, die sich nicht nur von diesem Impfstoff, sondern von Anti-Covid-Impfstoffen allgemein zurückziehen werden. Er vereint Impfgegner und Corona-Leugner, die diesen Rückzug nutzen und Verschwörungstheorien vorantreiben.“
Auch Warschau sollte die Notbremse ziehen
Rzeczpospolita findet es hingegen kontraproduktiv, nicht zu stoppen:
„Gesundheitsminister Adam Niedzielski hat angekündigt, dass Polen die Verabreichung von Astrazeneca nicht einstellen wird, weil die Vorteile die Risiken überwiegen. Und das ist richtig – aus der großen Perspektive der Statistiken. Aber nicht aus der Perspektive des Einzelnen. Hier kann die Gewichtung ganz anders aussehen. Die polnische Regierung sollte ernsthaft über einen anderen Kurs nachdenken. Es kann kontraproduktiv sein, darauf zu bestehen, die Impfungen mit Astrazeneca nicht einmal für einen kurzen Zeitraum auszusetzen, zumindest bis die Zweifel geklärt sind: Es kann das Vertrauen in die gesamte Impfkampagne untergraben.“
Astrazeneca bleibt unverzichtbar
Auch längerfristig kann die EU sowieso nicht auf andere Präparate ausweichen, meint The Daily Telegraph:
„Welche Alternative haben EU-Staaten, wenn sie nicht mit Astrazeneca impfen möchten? Die Fabriken von Pfizer produzieren nicht genug, und die EU wird sich äußerst schwer tun, andere Hersteller dazu zu bewegen, auf ihrem Territorium zu produzieren. ... Denn wer würde in ein Werk in der EU investieren wollen, wenn er weiß, dass Exporte von dort von der EU nach Lust und Laune gestoppt werden könnten? Die EU und ihre Mitgliedstaaten riskieren, eine impfstofffreie Zone zu werden. Das wird zu noch viel mehr Todesfällen unter Europäern führen - einschließlich Blutgerinnseln, die letztlich ein Symptom von Covid-19 sind.“
Moralische Zwickmühle
Im Streit um Astrazeneca treffen zwei grundlegend unterschiedliche Anschauungen aufeinander, erklärt Corriere della Sera:
„'Der Engländer liebt das offene Meer, der Deutsche den Wald', schrieb Elias Canetti. ... Die beiden europäischen Polaritäten stehen uns in diesen Stunden vor Augen. Großbritannien hat beim Thema Impfstoffe einen utilitaristischen Ansatz gewählt, der auf Kosten-Nutzen-Kalkulationen basiert; Deutschland hat den Vertrieb von Astrazeneca auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips ausgesetzt. In der angelsächsischen Welt ist ein Verhalten in der Regel erlaubt, bis es nachweislich schädlich ist; auf dem Kontinent ist es verboten, bis es nachweislich keinen Schaden anrichtet. Ethisch gesehen ist es äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, das Richtige zu wählen, wenn es um menschliches Leben geht.“
Risiken wiegen bei Impfstoffen besonders schwer
Die Frankfurter Rundschau findet die Unterbrechung richtig:
„Sicherheit muss an erster Stelle stehen. Das gilt bei jedem Medikament und umso mehr bei Impfstoffen, die gesunden Menschen gespritzt werden, um einer Krankheit vorzubeugen. Die Risiko-Nutzen-Abwägung ist deshalb bei einer Impfung noch einmal eine ganz andere als bei einer Therapie. ... Denn allein der kleinste Verdacht, der Impfstoff könnte massive Nebenwirkungen auslösen, wiegt schwer genug, um ihn nicht mehr einzusetzen. Ein solcher Zusammenhang ist ohne Restzweifel auszuschließen, bevor das Vakzin weiteren Millionen gespritzt werden kann.“
Gegnern keine Angriffsfläche bieten
Auch The Irish Independent hält das Aussetzen für klug:
„Einige Impfgegner werden diese Entwicklungen freudig aufgreifen, um die Impfkampagne des Staats weiter zu untergraben. Doch die Mehrheit der Menschen wird diese Vorsichtsmaßnahme als weiteres Indiz dafür sehen, dass die Gesundheitsbehörden die größte Sorgfalt walten lassen. All das wird also eher dazu beitragen, das Vertrauen der Menschen in die Impfkampagne und ihr Potenzial zu stärken, damit wir so früh wie möglich die Covid-Beschränkungen hinter uns lassen können. ... Das Vorsichtsprinzip anzuwenden, ist die klügste Option. Mit der Aussetzung der Astrazeneca-Impfungen erfüllen die Behörden ihre Pflicht zum Schutz der öffentlichen Gesundheit.“
Das Vertrauen ist verloren
Der Imageschaden ist irreparabel, meint hingegen der Kurier:
„Die jüngsten Vorkommnisse rund um den Astrazeneca-Impfstoff deuten nicht darauf hin, dass dieser unsicher - oder gar tödlich - sei. … Doch die Behörden vieler europäischer Länder drückten nun trotzdem auf die Stopp-Taste. … Wohl auch aus Haftungsgründen, aber auch weil die Abneigung der Bevölkerung nach den Schlagzeilen um die Todesfälle nicht mehr zu übersehen war. … Der Impfstoff wird zum Ladenhüter und hat nun ein gewaltiges Imageproblem. … Denn selbst wenn die Behörden in wenigen Tagen wieder grünes Licht geben, werden nun viele eher noch einige Wochen auf einen anderen Impfstoff warten, lieber noch sechs Wochen Lockdown als ein Risiko eingehen.“
Wertvolle Zeit verstreicht
Warum ein Impfstopp fatal ist, rechnet der Direktor des Bucharest Science Festivals, Alexandru Toma Pătraşcu, in Contributors am Beispiel von Rumänien vor:
„Derzeit haben wir täglich 5.000 Neuinfektionen, das sind in zwei Wochen 70.000 Fälle bei einer Bevölkerung von rund 20 Millionen Menschen. Wenn man die Impfung von einer Million Menschen um zwei Wochen verschiebt, verschiebt man auch für zwei Wochen ihren Schutz vor der Krankheit! In diesem Zeitfenster werden 3.500 von ihnen erkranken, und 15 oder 20 von ihnen werden sterben und viele andere werden langfristige Folgen haben (Lungen, Herz etc.). Rechnen Sie diese Zahl auf ganz Europa hoch, können sie das Ausmaß des Problems erkennen.“
Schlechtes Image kommt nicht von ungefähr
Új Szó kritisiert die Rolle der Medien und gibt Russland eine Mitschuld am negativen Image des Astrazeneca-Vakzins:
„Die Medien haben sich leider auf den Weg der Sensationshascherei begeben. ... Es ist zumindest eine Übertreibung, über jeden einzelnen Fall [von Nebenwirkungen] zu berichten, insbesondere wenn noch keinmal bewiesen wurde, dass die Impfung Tode verursacht hat. ... Viele haben bereits im Vorfeld der Impfkampagne gewarnt, dass gerade der Impfstoff von Astrazeneca so einem Druck ausgesetzt sein wird, weil die Grundlage für seine Entwicklung die gleiche ist wie beim russischen Sputnik und er deswegen als dessen größter Konkurrent gilt. Die Diffamierung des Astrazeneca-Impfstoffes ist Teil der russischen hybriden Kriegsführung in den EU-Ländern.“
Entweder ganz oder gar nicht
Der Journalist Cristian Tudor Popescu hält die Reaktion der rumänischen Regierung, eine Charge auf Eis zu legen, in Digi 24 für sinnlos:
„Wo unterscheidet sich diese Charge von den restlichen Astrazeneca-Chargen? ... Ich vermute, dass die Herstellung, Zertifizierung, das Verfahren, die Protokolle, die die Charge ABV 2856 durchlief, sich nicht von den anderen unterschieden hat. … Entweder setzt man den gesamten Impfstoff aus oder eben gar nicht. … Nach der Einnahme dieser Charge sind Menschen gestorben, doch niemand hat nachgewiesen, dass man nicht auch nach jeder anderen Charge hätte sterben können, mit der fünf Millionen Menschen geimpft wurden. … Wenn es ein Problem mit Astrazeneca gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es auch bei anderen Chargen auftritt.“
So sicher wie jedes andere Vakzin
La Repubblica empfieht den Blick nach Großbritannien:
„Die Lehre aus England ist, dass der Oxford-Impfstoff so sicher ist wie jeder andere, der derzeit im Umlauf ist. ... Von den mehr als 24 Millionen Menschen in Großbritannien, die bereits ihre erste Dosis eines Covid-19-Impfstoffs erhalten haben (mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung), hat etwa die Hälfte den Astrazeneca- und die Hälfte den Pfizer-Impfstoff erhalten, mit Ergebnissen, die bisher fast identisch erscheinen. Dank dieser schnellen Massenimpfkampagne, zusammen mit einer vor Weihnachten begonnenen Abriegelung, konnte das Land einen drastischen Rückgang der Infektionen und Todesfälle verzeichnen.“
Maximale Transparenz ist jetzt gefragt
Nun hilft nur eine genaue Auswertung der Vorfälle, meint die Virologin Antonella Viola in La Stampa:
„Die Aussage des Herstellers, der Impfstoff werde im Allgemeinen gut vertragen, kann nicht ausreichen, genauso wie die Ema nicht mit Sicherheit sagen kann, dass thromboembolische Ereignisse nichts mit der Impfung zu tun haben, ohne die Ergebnisse aller Autopsien. … Daher gibt es im Moment zwei Hypothesen: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Todesfällen und Impfung, nur einen zeitlichen Zufall, oder es gibt ein Problem in einer bestimmten Charge aufgrund von Kontamination oder Produktionsfehlern. Und das ist es, was wir mit Hilfe der Analyse der nächsten Tage verstehen müssen. Aber um die normale Reaktion der Bestürzung der Menschen unter Kontrolle zu halten und die Impfkampagne nicht zu unterminieren, brauchen wir wirklich maximale Transparenz.“
Schlingerkurs ohne Faktencheck
Webcafé fürchtet, dass der Stopp die Impfverweigerer wieder auf den Plan rufen wird:
„Die Skepsis gegenüber Impfstoffen hatte gerade angesichts der Berichte von Tausenden von geimpften Menschen nachgelassen, und jetzt wird sie mit neuer Kraft ausbrechen. … Schwer zu sagen, was schlimmer ist - die Corona-Statistiken, die von Tag zu Tag schwärzer werden, oder die Tatsache, dass unser Land ein Jahr nach Beginn dieses Albtraums immer noch umherirrt und Entscheidungen trifft, die nicht auf wissenschaftlichen Fakten beruhen.“