Impfkrise: Wie kann Europa das Tempo erhöhen?
Spitzenreiter Israel, die USA, Großbritannien, Serbien: Sie alle schaffen es schneller, ihre Bevölkerung gegen Corona zu impfen als die EU-Staaten. Kommentatoren suchen nach Gründen, warum die Europäische Union noch immer so hinterherhinkt - und nach Lösungen, wie Tempo und Akzeptanz der Impfkampagnen erhöht werden können.
Weniger Protektionismus!
Die EU und Großbritannien sollten sich nicht in ihrem Streit um Exportverbote festfahren, rät NRC Handelsblad:
„Protektionismus führt nicht zu mehr Impfstoffen. Exportverbote in einer Industrie mit international verzweigten Produktionsketten wie der Pharmaindustrie sind ein Rezept für Reibungen und noch langsamere Lieferungen. Außerdem führt ein Exportverbot schnell zu einer Eskalation. ... Das Risiko ist groß, dass dieser Ausbruch noch lange Impfstoffe erforderlich macht, um neuen Varianten die Stirn zu bieten; Virologen gehen auch davon aus, dass dieser Ausbruch nicht der letzte ist. Für die EU und Großbritannien gibt es nur einen Weg aus der Sackgasse: Verhandeln.“
Impfstrategie beibehalten
In Finnland wird derzeit diskutiert, besonders stark vom Virus betroffenen Regionen den Vorrang beim Impfen zu geben. Karjalainen hält davon nichts:
„Es würde mindestens einige Wochen dauern, bis die am schwersten betroffenen Regionen von zusätzlichen Impfungen profitieren würden, da es Zeit brauchen würde, den Impfstoff umzuleiten. ... Nach aktueller Prognose werden ab Mai Personen geimpft, die nicht zu Risikogruppen oder der älteren Bevölkerung gehören. Bis Ende Juni könnten dann alle Erwachsenen geimpft sein. Diese Debatte betrifft also höchstens einige Wochen von Mai bis Juni. Die Änderungsforderungen sind demnach ein Festhalten an Nebensächlichkeiten - außer wenn man die Reihenfolge schon jetzt, bei der Impfung der Risikogruppen, verändern will.“
Mit Zahlen überzeugen
Trud appelliert an die Bulgaren, die Gefahr von Nebenwirkungen nicht aufzublasen:
„Nach Angaben von Pfizer kann jeder zehnte Mensch Schmerzen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen, Schwindel, Schüttelfrost oder Fieber bekommen. ... Einer von hundert leidet an Schlaflosigkeit. ... Akute allergische Reaktionen wurden nur in einigen wenigen Fällen unter Millionen von Geimpften beobachtet. ... Vergleichen wir diese Zahlen mit den aktuellen Covid-19-Zahlen in Bulgarien: Nach offiziellen Angaben waren am Sonntag 327.770 Fälle registriert. Die Wahrscheinlichkeit, im Moment krank zu werden, beträgt also 1 zu 21,4. ... Bei den Erkrankten beträgt die Sterbewahrscheinlichkeit 1 zu 25,9. ... Und wissen Sie, wie viele Menschen, die Covid hatten, bleibende Schäden erlitten haben - an Lunge, Herz-Kreislauf, Muskeln, Gehirn? Seien Sie bitte vernünftig!“
Gier ist noch keine Ausbeutung
Die Empörung über Boris Johnsons Aussage, der britische Impferfolg sei Gier und Kapitalismus zu verdanken, weist der Ökonom Dávid Makó in Azonnali zurück:
„Der Impfstoff-Champion Johnson hat recht. Verblüffung und Unverständnis war vor allem bei Menschen, darunter Klicks jagende Journalisten, zu erleben, die entweder nie eine Ökonomie-Vorlesung besucht oder nicht zugehört haben. Oder aber, wenn wir böswillig sein wollen: Sie haben diese Aussage, wie sonst immer, absichtlich missverstanden. ... Das Problem ist, dass die meisten von ihnen Gier mit Ausbeutung verwechseln, in der der Vorteil der einen in moralisch inakzeptabler Weise auf Kosten der anderen geht. ... Doch der Feudalismus gehört der Vergangenheit an. ... Wirtschaftliche Rationalität und die Verfolgung von Eigeninteressen führen zu einer Gleichgewichtssituation, von der langfristig alle profitieren. “
Verantwortung nicht nur bei der Politik
Die Regierenden müssen sich zu Recht Kritik an ihrer Festlegung der Impfreihenfolge anhören, das ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass zu wenig geimpft wird, betont Le Quotidien:
„Trotz der richtigen Entscheidung, vorrangig die Bewohner von Pflege- und Seniorenheimen sowie das Gesundheitspersonal zu impfen, steigt das Unverständnis darüber, dass der Status der infrage Kommenden offenbar mehr Gewicht hat als ihre Funktion. So wurde das Reinigungspersonal noch nicht geimpft. ... Am bedenklichsten ist aber, dass das medizinische Personal weiterhin zögert, sich immunisieren zu lassen. Die Nichteinhaltung dieser moralischen Pflicht ist nicht allein den politischen Verantwortlichen anzulasten.“
Mehr Staat wird es auch nicht richten
Im Vergleich zur Wirtschaft gibt der Staat ein verheerendes Bild ab, findet Die Presse:
„Der Wunsch nach einem stärkeren Staat wird in der Bevölkerung zunehmend Mainstream. Das ist erstaunlich. ... Die USA und Großbritannien sind uns beim Impfen um mehrere Monate voraus. … Sieht man genauer hin, bemerkt man ein auffallendes Muster: Dort, wo Top-Beamte Impfstoffbestellung und -organisation managen - auf EU-Ebene und in den Mitgliedsländern -, geht wenig weiter. Dort, wo Manager aus der Privatwirtschaft stark eingebunden wurden - in den USA und Großbritannien -, läuft die Sache wie am Schnürchen. ... Vielleicht sollte uns das Impfdesaster ein bisschen zum Nachdenken anregen, bevor wir nach mehr Staat in der Wirtschaft rufen.“
Kapitalismus rettet Leben
Es ist nichts Verwerfliches daran, dass Boris Johnson Gier und Kapitalismus als Gründe für den britischen Impferfolg anführt, glaubt Daily Telegraph:
„Im Gegenzug dazu wurde das Unheil der EU direkt durch das Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus verursacht. Von Anfang an behandelte sie Big Pharma in der Pandemie mit Argwohn, statt sich, so wie es englischsprachige Länder, ihre Verbündeten und andere kapitalistische Staaten taten, darauf einzulassen und zu begrüßen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die, gemessen am Prozentsatz der geimpften Bevölkerung, fünf erfolgreichsten Länder allesamt freie Marktwirtschaften sind. EU-Länder wie Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland liegen hingegen auf den Plätzen 14, 15, 16 und 17. Der freie Marktkapitalismus rettet Leben.“