Draghi nennt Erdoğan Diktator: Plumper Reflex?
Italiens Regierungschef Mario Draghi hat den fehlenden dritten Stuhl beim Besuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Ankara mit harschen Worten kommentiert: Er nannte den türkischen Präsidenten Erdoğan während einer Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag einen Diktator.
Lange Leitung
Cyprus Mail veröffentlicht einen Kommentar von Faisal J. Abbas, Chefredakteur der saudischen Zeitung Arab News:
„Hat Draghi gerade erst entdeckt, dass das Erdoğan-Regime die Türkei in eine Diktatur verwandelt hat? War die Verhaftung oder Suspendierung von fast 45.000 Militärbeamten, Richtern, Beamten und Lehrern 2016 nicht Indikator genug? Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden in den letzten sechs Jahren insgesamt 128.872 Ermittlungen wegen 'Beleidigung des Präsidenten' eingeleitet. Davon führten 9.556 zu Haftstrafen, auch 903 junge Menschen zwischen 12 und 17 Jahren mussten wegen dieser 'Anklage' vor Gericht. ... Was die Aussagen betrifft, dass von der Leyen Behandlung 'eine Beleidigung Europas' war: Ich frage mich, ob die Kritiker auch bemerkt haben, wie die Türkei Zypern und Griechenland im östlichen Mittelmeerraum dauernd einschüchtert.“
Die türkische Zivilgesellschaft stärken
Wenig erfreut über Draghis Wortwahl ist die Politologin Nathalie Tocci in La Stampa:
„Wäre die Türkei wirklich eine Diktatur, könnte kein materielles Interesse eine Öffnung rechtfertigen. Wir haben aber ein Interesse daran, mit der Türkei ein neues Kapitel aufzuschlagen, gerade weil es sich nicht um eine Diktatur handelt, sondern um ein Land, in dem sich der Autoritarismus allmählich verfestigt hat, die Gesellschaft aber weiterhin unglaubliche Anzeichen demokratischer Widerstandsfähigkeit zeigt. ... Diese Zivilgesellschaft braucht dringend eine europäische Verankerung, die ihr nach und nach verwehrt wurde, sowohl durch die Türen, die Europa ihr vor der Nase zugeschlagen hat, als auch durch den Autoritarismus und Nationalismus seiner Führung.“
Heuchlerische EU
Yetkin Report ärgert sich über vorschnelle Interpretationen von europäischer Seite:
„Das Hauptproblem ist, dass die voreingenommenen Europäer das Protokollproblem zwischen ihren eigenen Vertretern auf die Türkei schieben wollen, indem sie andeuten, dass der türkische Präsident die verehrte von der Leyen sowohl diplomatisch als auch als Frau herabgewürdigt habe. ... Dass Mario Draghi den persönlichen Streit zwischen den beiden Spitzenvertretern der EU ignoriert und Erdoğan als 'Diktator' bezeichnet, geht Hand in Hand mit diesem Vorurteil. Die Wurzel des Problems, die beim Protokollunfall zutage getreten ist, ist die Doppelmoral. Es ist die EU, die scheinbar Werte und Prinzipien verteidigt, während sie ihre Interessen in den Vordergrund stellt.“