Was will Biden in Europa erreichen?
Joe Biden ist am gestrigen Mittwoch auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im ostenglischen Mildenhall eingetroffen, der ersten Station seiner einwöchigen Europa-Reise. Auf dem Programm stehen unter anderem der G7-Gipfel in Cornwall, der Nato-Gipfel am kommenden Montag sowie Treffen mit Johnson, Erdoğan und Putin. Europas Presse beleuchtet, welche Agenda Biden auf seiner ersten Auslandsreise als Präsident verfolgt.
Gemeinsame Haltung zu Russland gesucht
In Bezug auf Moskau hat Biden vor seiner Reise nach Genf viel mit den Europäern zu besprechen, glaubt fakti.bg:
„Russland wird das Hauptthema des G-7-Gipfels sein und auch in den Tagen danach, wenn Biden sich mit europäischen Staats- und Regierungschefs und Nato-Verbündeten trifft, bevor er für das Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Genf aufbricht. ... Die erst kürzlich erfolgten, wahrscheinlich aus Russland kommenden Ransomware-Attacken gegen den weltgrößten Fleischkonzern JBS, die finanzielle Unterstützung Russlands für Belarus und die Ryanair-Entführung zwingen die US-Behörden zum Handeln.“
EU spielt nur noch eine Nebenrolle
Allzu große Hoffnungen sollte Brüssel auf Biden nicht setzen, schreibt Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope:
„Denn trotz aller Symbolik spielt Europa für die USA nicht mehr die erste Geige. Nicht einmal die Dauerkrise zwischen Russland und der Ukraine hat das geändert. Das Hauptaugenmerk gilt längst China. Das Reich der Mitte ist für die Amerikaner nicht nur 'Partner, Konkurrent und systemischer Rivale', wie es in Brüssel heißt. Nein, es ist der neue Gegner, den es einzudämmen gilt, vielleicht auch mehr. Der EU kommt in dieser Weltsicht nur noch eine Nebenrolle zu. Sie soll den Amerikanern den Rücken freihalten und, wo möglich, den Ausputzer spielen.“
Es heißt weiter "America first"
Biden geht es vor allem um sein eigenes Land, auch wenn er dem Pariser Klimaabkommen wieder beigetreten ist und Trumps Sanktionen für EU-Staaten aufgehoben hat, betont L'Opinion:
„Ansonsten heißt es weiter 'America first'. In Sachen Impfstoff wartet die Welt immer noch darauf, dass Washington beginnt, seine Dosen zu exportieren. Was Joe Biden nicht daran gehindert hat, ohne jegliche Absprache die Freigabe der Patente auf die Impfstoffe vorzuschlagen. Gleiches geschah bei der Ankündigung des Truppenabzugs aus Afghanistan, obwohl weitere Nato-Länder an der Mission beteiligt sind. In diesem Sinne ist die Europatournee des neuen US-Präsidenten von Bedeutung. Er muss nicht nur die von Donald Trump zerstörte Vertrauensbeziehung wiederherstellen, sondern auch sein Handeln mit seinen Worten in Einklang bringen.“
USA-Türkei: Es bleibt kompliziert
Obwohl Erdoğan alles dafür tut, endlich gute Beziehungen zu Biden aufzubauen, sind die Vorzeichen für das geplante Treffen der beiden nicht gut, glaubt Hürriyet:
„Man kann schwer behaupten, dass bei den Problemen, die in allen Vorbereitungssitzungen der letzten Monate und Wochen auf den Tisch kamen, Fortschritte erzielt worden seien. ... An erster Stelle steht dabei der [von den USA gewünschte] Rückzug der Türkei von den S-400-Luftabwehrsystemen, die sie von Russland gekauft hat. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der strategischen Ausrichtung der Türkei aus Sicht der Biden-Front ein wichtiger Faktor. Darüber hinaus sind Probleme in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ein wichtiges Anliegen. So ist das Treffen am 14. Juni in Brüssel eingeklemmt zwischen den momentanen 'Spannungen' und den Erwartungen an eine 'neue Ära'.“
Abrüstung nicht auf Kosten der Sicherheit
Über 60 prominente Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens haben am 7. Juni einen Aufruf an Biden und Putin veröffentlicht, in dem sie weitere Abrüstung und eine Normalisierung der Beziehungen von Russland und den USA fordern. Polityka hofft, dass der US-Präsident trotzdem auf einer Stärkung der Raketenabwehr in Osteuropa beharren wird:
„Biden steht unter Druck, endlich jene Entschlossenheit gegenüber Russland zu zeigen, von der er so viel gesprochen hat und von der bisher wenig zu sehen ist. Ein Verzicht auf die Raketenabwehr um einer Vereinbarung willen, deren Dauerhaftigkeit niemand garantieren kann, könnte bedeuten, dass man sich einem russischen Schachmatt aussetzt.“
Franzosen und Deutsche erst mal einnorden
Joe Biden wird von den europäischen Verbündeten mehr Wille zur Konfrontation mit Peking einfordern, prophezeit Politologe Lucio Caracciolo in La Stampa:
„Biden wird ihnen klar machen, dass zwischen China und den Vereinigten Staaten kein Platz ist. ... Die amerikanischen Sherpas haben bisher erfolglos versucht, die Franzosen und Deutschen davon zu überzeugen, die US-Definition von China als 'Gegner' zu übernehmen. Praktisch bedeutet dies, dass die europäischen Großmächte den Handel mit China so weit wie möglich fortsetzen könnten, allerdings mit gewissen Einschränkungen im entscheidenden Bereich der Technologien. ... Das Klima hat sich im Vergleich zu vor ein paar Monaten geändert. Damals waren die Länder der Europäischen Union bereit, mit China über eine privilegierte Wirtschaftsbeziehung zu verhandeln, über ein Abkommen, das jetzt auf Eis liegt.“
Die Ukraine ist nicht der Nabel der Welt
Biden hat mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj telefoniert, ihm aber ein Treffen vor seiner Begegnung mit Putin verweigert. Zuvor hatte Selenskyj unter anderem den Verzicht der USA auf Sanktionen wegen Nord Stream 2 offen kritisiert. Radio Kommersant FM sieht eine Selbstüberschätzung Kiews:
„Das Leben unterscheidet sich stark von den vereinfachten und idealisierten Vorstellungen eines Teils der ukrainischen Politelite, dass sich die Welt um ihr Land dreht und dass der Schutz der ukrainischen Interessen die Hauptpriorität von Deutschen, Franzosen und Amerikanern ist. ... Für die USA sind die Beziehungen zur Ukraine heute ein Derivat der Beziehungen zu Russland. Damit müssen die Kiewer Politiker klarkommen. Man kann weitermachen im Geiste der aktuellen Diplomatie, die an ein verwöhntes, beleidigtes Kind erinnert, das denkt, dass ihm alle etwas schuldig sind. Oder man kann sich mit der Realität anfreunden.“
Das Tabuthema ist keins mehr
Einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel in Washington sieht La Stampa sich anbahnen:
„Auf dem Nato-Gipfel am Montag in Brüssel steht auch ein Elefant im Raum, den zwar nicht jeder sehen will, auf den aber nun das Center for American Progress, eine progressive, der US-Regierung nahe stehende Denkfabrik, das Augenmerk gelegt hat: grünes Licht für die gemeinsame Verteidigung der EU zu geben. … Der Thinktank veröffentlichte am 1. Juni einen Bericht mit dem Titel 'The Case for EU Defense'. Laut dessen Autoren 'war der Widerstand der USA gegen gemeinsame Verteidigungsstrategien der EU seit den 1990er Jahren ein strategischer Fehler, der sowohl der Europäische Union als auch der NATO geschadet hat. Die Zeit ist reif für einen neuen amerikanischen Ansatz, der ehrgeizige Strategien fördert.'“
Erdoğans Politik ist dechiffriert
Der türkische Präsident wird mit aller Macht versuchen, sich mit Biden gut zu stellen, glaubt Gazete Duvar:
„Eine arrogante Regierung, die noch vor einigen Jahren behauptete, die Region zu regieren, sucht nun nach tausend Wegen und verhandelt, um für die USA ein 'nützlicher Verbündeter' zu sein. ... Die Türkei ist allgemein in die fragilste Phase ihrer Geschichte eingetreten. Und die türkische Wirtschaft hängt derzeit von der Haltung der USA ab. ... Doch es ist offensichtlich, dass die Biden-Regierung nicht mit Erdoğan zusammenarbeiten will. ... Erdoğan ist für den Westen, insbesondere für die USA, nicht mehr unverzichtbar. Er gilt als unzuverlässiger Führer, dessen Art, Politik zu betreiben, gut entziffert worden ist. Sein größter und bei seinen Verhandlungspartnern wohlgekannter Trumpf ist, dass er zurückweicht und kompromissbereit wird, sobald er feststeckt.“
Beweise gegen Putin im Gepäck
Das Biden-Putin-Treffen spielt sich vor dem Hintergrund brisanter Informationen ab, über die die USA verfügen, meint Adevărul:
„Es geht um Finanzdokumente, die die Korruption des russischen Regimes beweisen. Und es geht um Putins Reichtum, um seinen milliardenschweren Schwiegersohn, den er über Nacht bekam, um Offshore-Investitionen und den milliardenschweren Schwarzmeerpalast. … Hinzu kommen knallharte politische Enthüllungen, wie Beweise der Verwicklung des Kremls in die 'terroristischen' Sprengstoffanschläge auf Wohnblocks 1999, die Putin vorangetrieben hatte und die den Tod von 300 unschuldigen russischen Bürgern zur Folge hatten - eine Tatsache, die Putin zu einem Paria machen könnte. … Wie all jene Informationen verwendet werden, wird man sehen. Doch es zeichnet sich ab, dass dieses Gipfeltreffen schwerfällig und unangenehm werden wird.“