Bidens Besuch: Europa zieht Bilanz
Das Treffen mit Putin am Mittwoch in Genf war US-Präsident Bidens letzte Station auf der Europareise, die mit EU-, G7- und Natogipfel sowie diversen bilateralen Gesprächen einem regelrechten Marathon glich. Deutlich wurde, dass die USA nach der Trump-Ära wieder eine stärkere Kooperation mit Europa anstreben, vor allem im Hinblick auf China. Europas Presse diskutiert die Tragweite dieser Bestrebungen.
Zwei hervorragende Nachrichten
Público ist vollen Lobes für Biden:
„Die Vereinigten Staaten haben aufgehört, die Europäische Union als rivalisierenden Block und die Nato als ein durch Misstrauen und Konkurrenz zum Scheitern verurteiltes Bündnis zu betrachten; und gleichzeitig profilieren sich die Vereinigten Staaten erneut mit dem Hauptfokus der Eindämmung und Bekämpfung der autoritären Strömungen, die weltweit unter der Inspiration Chinas oder Russlands wachsen. Das scheint nicht viel zu sein, aber die Rückkehr der Vereinigten Staaten zur Normalität und die Berechenbarkeit ihrer Rolle, wie während des Kalten Krieges, sind ausgezeichnete Nachrichten für Demokratien und insbesondere für den europäischen Block.“
Von transatlantischem Neustart nichts zu spüren
Jenseits pathetischer Rhetorik bleibt nicht viel von Bidens Besuch, resümiert hingegen das Handelsblatt:
„[D]ie berechtigte Erleichterung darüber, dass jetzt im Weißen Haus wieder jemand sitzt, mit dem man reden kann und der für rationale Argumente überhaupt zugänglich ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Für eine wahrhaftige Wiederbelebung der transatlantischen Partnerschaft braucht es weit mehr. Etwa eine glaubwürdige Initiative für ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Welches Signal an autokratische Regime wie Russland oder China könnte stärker sein? Doch dazu wird es in absehbarer Zeit nicht kommen. Der unverblümte Protektionismus Bidens, aber auch der europäischen Partner, insbesondere was die Landwirtschaft angeht, bleibt das große Hindernis.“
Image wiederhergestellt
Die Reise des US-Präsidenten diente in erster Linie dazu, die vier Trump-Jahre aus Europas Gedächtnis zu löschen, erklärt Corriere della Sera:
„Nachdem auch das schwierigste Treffen, nämlich das mit Wladimir Putin, abgeschlossen ist, kann man sagen, dass der amerikanische Präsident sein Ziel erreicht hat. Es war nicht einfach. ... Biden hat die transatlantische Verbindung wiederbelebt; er hat eine Kurskorrektur der Nato erreicht, indem er die 'Herausforderung' China in die Liste der Risiken aufgenommen hat; er hat den Dialog mit Erdoğan wieder eröffnet und vor allem eine 'pragmatische' Konfrontation mit Putin in Gang gebracht. In gewissem Sinne ist es so, als hätte Biden die Karosserie der US-Außenpolitik repariert und poliert, die durch die Trumpsche Zeit zumindest einige Beulen aufwies. Aber von nun an wird sich Washington an den Verdiensten messen lassen müssen.“
Die EU ist für Biden uninteressant
Le Figaro erkennt in Joe Bidens Verhalten ein Indiz dafür, dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form ein schwaches Bild abgibt:
„Joe Biden zeigt Europa, dass es für ihn nicht zählt. Indem er sich mit Boris Johnson und dem türkischen und russischen Präsidenten (zwei autoritären, populistischen und nationalistischen Führern) trifft, zeigt er, dass er nur Länder respektiert, die als Nationen weiter existieren wollen, und die die Karte der Stärke und der Verteidigung ihrer Interessen spielen, anstatt sich in einem großen supranationalen Säurebad aufzulösen. Eine geteilte, technokratische, seelenlose und geschichtslose Europäische Union, die die Macht ignoriert und nur an das Gesetz und den Markt glaubt, ist für Joe Biden wenig interessant.“