Flucht aus Afghanistan: Die Nachbarn sollen's richten
Die EU-Innenminister haben sich in ihrer Sondersitzung letzte Woche nicht auf verbindliche Aufnahmekontingente für Schutzsuchende aus Afghanistan geeinigt. Die EU-Kommission hatte das gefordert, scheiterte jedoch am Widerstand von unter anderem Österreich, Ungarn, Dänemark und Slowenien. Stattdessen sollen Afghanistans Nachbarländer Geld für die Aufnahme bekommen. Europas Presse ist weitgehend empört.
Wir bedauern nur, wir helfen nicht
Corriere del Ticino tadelt:
„In der vergangenen Woche hat die Türkei weitere 43 Kilometer Mauer an der Grenze zum Iran fertig gestellt. Polen hat mit dem Bau einer Anti-Migranten-Barriere an der Grenze zu Belarus begonnen. ... Die Idee ist klar: Wir schaffen einen Hindernisparcours, damit die Verfolgten nicht zu uns gelangen. Verfolgte, denn zumindest darüber sollten wir uns im Klaren sein: Afghanen sind keine 'Wirtschaftsflüchtlinge'. ... Als ob Stacheldrahtzäune nicht genug wären, bezahlen wir Länder zwischen 'uns' und 'ihnen', um sie zwar aus Afghanistan herauszuholen, dann aber Tausende von Kilometern entfernt zu 'parken'. Keine europäische Regierung möchte zu gastfreundlich sein. Sie würde den Hohn der Parteien riskieren, die den Kampf gegen die illegale Einwanderung in eine Wahlmaschine verwandelt haben.“
Krise nicht outsourcen
Helsingin Sanomat warnt davor, Afghanistans Nachbarländer die Krise ausbaden zu lassen:
„Terrorismus ist eine chronische Gefahr, die durch Chaos verstärkt wird. Wenn die internationale Hilfe für Afghanistan eingestellt wird, werden Drogen die Haupteinnahmequelle der Taliban sein. Das will man nicht. Große Sorgen bereitet auch die Stabilität der gesamten Region. Die EU muss die Nachbarländer Afghanistans unterstützen. … Sicherheitsrisiken und die Flüchtlingskrise an die Nachbarstaaten Afghanistans auszulagern, ist keine Lösung, auch wenn dies zum Mantra der EU geworden ist. Die zentralasiatischen Länder wollen weder Flüchtlinge noch Terroristen, was verständlich ist.“
Geschichtsvergessen und zynisch
An das, was in den 1990ern in den Flüchtlingslagern in Afghanistans Nachbarländern passierte, erinnert die Süddeutsche Zeitung:
„[A]lle, die jetzt erklären, man müsse den Nachbarländern helfen, die Flüchtlinge aufzunehmen, sind entweder geschichtsvergessen oder besonders zynisch. Die Taliban nämlich sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind in den Neunzigerjahren genau in jenen Flüchtlingslagern in den Nachbarstaaten groß geworden, in denen Berlin und Brüssel heute wieder viele Flüchtlinge aus Afghanistan unterbringen möchten. Was das bedeutet, erschließt sich von selbst.“
Ein verlogener und tödlicher Handel
Die EU macht die Abwehr von Flüchtlingen auf skrupellose Weise zum Geschäftsmodell, meint La Stampa:
„Die neue gewinnträchtige Ware des globalen Marktes des dritten Jahrtausends sind Flüchtende. Wir bezahlen den, der sie uns fernhält, indem er sie in Lagerhallen drängt und grausamen Wächtern anvertraut. Es gibt sie, die Außenpolitik der EU, und wie! Dabei schienen die Syrer des 'türkischen Modells' die Ausnahme, per öffentlichem Auftrag dem unsympathischen, aber sprichwörtlichen Sultan Erdoğan anvertraut, im Tausch gegen Milliarden. Doch der Unterschied liegt nur im Niveau an Verlogenheit, sich weiterhin als aufklärerisch und aufgeklärt zu definieren. Ein tödlicher Handel, ein krimineller Tausch, der den Untergang des Kontinents vorantreibt und mit unserem unmittelbaren Vorteil gerechtfertigt wird.“
Genauso planlos wie 2015
Europa hat nichts gelernt, kritisiert Der Standard:
„Wenn nun von manchen EU-Politikern verlangt wird, man müsse doch gefährdete Frauen und Kinder 'rausholen', um sie vor den Taliban zu schützen – Richterinnen bevorzugt –, stellen sich ernste Fragen: Im Prinzip richtig, aber wie denn? ... Umso hektischer wird jetzt nach Ad-hoc-Lösungen gesucht, weil nichts vorbereitet war und ist. Für die Nachbarstaaten soll es eine Milliarde Euro geben, um Flüchtlingsströme Richtung Europa abzuhalten. ... Da und dort sind Länder bereit, ein paar Tausend Afghanen aufzunehmen, die für den Westen gearbeitet haben. Aber von einer abgestimmten, durchdachten und machbaren Flüchtlingspolitik kann keine Rede sein. Es ist fast wie 2015.“
Kein Anreiz mehr für Rumänien
Warum sich Rumänien mit irgendwelchen Zusagen zur Aufnahme von Menschen aus Afghanistan zurückhält, erklärt Mediafax:
„Weder der Oberste Rat der [rumänischen] Landesverteidigung CSAT noch irgendein rumänischer Offizieller hat bisher eine Flüchtlingsquote genannt. Warum sollten sie auch? Rumänien hat schließlich keinerlei Interesse, Versprechungen zu machen, bevor die EU etwas zum Thema entscheidet. 2015 bei der ersten großen Flüchtlingswelle diente noch der [bis heute nicht vollzogene] Beitritt zum Schengenraum als Anreiz, die Flüchtlingsquote anzuheben. Heute gibt es nicht einmal mehr dieses Lockmittel, sondern nur die allgemeinen Versprechungen Ursula von der Leyens, jenen Ländern, die Afghanen aufnehmen, etwas mehr Geld zu geben.“