Wie weiter zwischen Warschau und Brüssel?
In Polen sind am Wochenende zehntausende Menschen in verschiedenen Städten auf die Straße gegangen, um gegen das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts von vergangener Woche zu protestieren. Weil es EU-Recht für teilweise unvereinbar mit der polnischen Verfassung hält, fürchten viele ein Ausscheiden Polens aus der EU. Europas Presse diskutiert die Tragweite der Proteste und die Zukunft der Europäischen Union.
Immer noch zu wenig
Trotz des Widerstands auf der Straße fehlt es der Opposition rund um Donald Tusk an Durchschlagskraft, kommentiert der Deutschlandfunk:
„Das liegt ... auch an Tusk selbst. Er ist wegen seiner früheren, in Teilen neoliberalen Politik nicht nur in PiS-Kreisen weiterhin eine Reizfigur. Eine neue, überzeugende Programmatik lässt seit seiner Rückkehr auf sich warten. Das Gleiche gilt für eine personelle Neuausrichtung von Tusks Partei Bürgerplattform. Das alles braucht es aber, um über den eigenen Wählerkern hinaus Zustimmung zu generieren. Und hier liegt die zweite Ursache der begrenzten Kraft der Pro-EU-Proteste. Auswanderung und eine seit dem Ende des Kommunismus nie ganz überwundene politische Apathie erschweren eine breite Mobilisierung.“
Die Opposition braucht eine Europa-Vision
Auch Tygodnik Powszechny stellt Forderungen an die Opposition:
„Die [EU-]Gemeinschaft befindet sich in einer Identitätskrise und ist durch ein Geflecht vieler gegensätzlicher Interessen tief gespalten. Kaczyński sieht dies und berücksichtigt es in seinen Kalkulationen. Vielleicht rechnet er mit einer baldigen Regierungsübernahme von ihm ähnlichen 'Souveränisten' in anderen wichtigen Ländern. Für die polnischen Oppositionspolitiker reicht es vorerst aus, dass die Verteidigung gegen den 'Polexit' die vielschichtige Wählerschaft des gesamten Spektrums jenseits der PiS stark konsolidiert hat. Es ist kaum zu erwarten, dass sie zwei Jahre vor der Wahl in der Lage wären, eine kohärente Vision der EU zu präsentieren. ... Es wird jedoch eine Zeit kommen, in der man dieser Frage nicht mehr ausweichen kann.“
Vilnius muss sich auf Warschau verlassen können
Polens Verhalten schadet der Erweiterung der EU, warnt der Politologe Ramūnas Vilpišauskas in 15min:
„Je stärker solche Konflikte zwischen Polen und den EU-Institutionen sind, desto weniger glaubwürdig klingt Polens Stimme, wenn es um die wichtigen politischen und institutionellen Reformen in der EU-Nachbarschaft geht. ... Und dies ist auch ein Grund, wieso Litauen sich Sorgen machen sollte - Litauens strategisches Interesse ist eine Verbreitung der demokratischen und europäischen Werte in der östlichen Nachbarschaft. ... Die Situation wird auch zu einem zusätzlichen Argument für solche EU-Länder wie Frankreich, die Balkanländer nicht zu schnell zu integrieren und der Ukraine keine Zukunftsperspektive in der EU zu geben.“
Überleben durch Verkleinerung
Die EU sollte sich nicht länger mit unwilligen Mitgliedsstaaten herumplagen, drängt der hochrangige Beamte Etienne Keroyant in Les Echos:
„Angesichts der bevorstehenden Herausforderungen muss die EU mit einer starken Stimme sprechen, ohne das Risiko eines Dolchstoßes durch eines ihrer Mitglieder. … Die EU auf ihre historischen Mitglieder - das Europa der 12 oder 15, denen sich die wirklich an einer weitreichenden Integration interessierten mittel- und osteuropäischen Staaten anschließen können - mit ähnlicher wirtschaftlicher Entwicklung sowie Kultur neu auszurichten, scheint derzeit unerlässlich, um die Weiterentwicklung, ja gar das pure Überleben des europäischen Projekts zu sichern. Und um den Kontinent zu einer Macht zu formen, die in den nächsten Jahren globales Gewicht hat.“
Nie wieder Bürgerin zweiter Klasse sein
Natalia Waloch, die vor Polens EU-Beitritt in Frankreich als Reinigungskraft schwarz arbeitete, erinnert sich in Gazeta Wyborcza an ihre Hoffnungen:
„Eine junge Polin in Paris im Jahr 2002 zu sein war nicht einfach. Die Franzosen hatten wenig Ahnung von Polen. … Ich wurde oft gefragt, ob wir in Polen Autos oder Computer haben. In den Köpfen vieler Menschen lag Polen irgendwo in der Nähe des Urals. ... Ich beschloss, dass ich nie wieder irgendwohin gehen würde, wo ich Bürgerin zweiter Klasse sein würde. Ich wollte im wahrsten Sinne des Wortes Europäerin sein, Zugang zu Universitäten und Studiengängen im Ausland haben und nicht nur zu Gelegenheitsjobs, die mich oft an den Rand meiner Kräfte brachten. Ich werde nicht zulassen, dass mir das [jetzt] jemand wegnimmt.“