Urteil aus Warschau: Droht der Polexit?
Das Verfassungsgericht in Warschau hat geurteilt, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Konkret geht es um Bestimmungen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet. Wie Brüssel auf diesen Affront reagieren sollte und ob nun ein Austritt aus der EU bevorsteht, beschäftigt die Presse.
Gefährlicher als der Brexit
Die EU hat keine geeignete Handhabe gegen diesen Bruch von innen, befürchtet Financial Times:
„Das Urteil ist ein direkter Angriff auf die Rechtsordnung der EU, die die EU zusammenkittet. Großbritannien hat sich aus der EU zurückgezogen; Polen will hingegen drinnenbleiben und hier seine verfassungsmäßige Unabhängigkeit ausüben. Damit zersetzt es die Einheit der Union von innen heraus. ... Bedauerlicherweise verfügt die EU über keine durchführbaren Mechanismen, um Mitglieder wegen schwerer Regelverstöße auszuschließen. Die Kommission wird mit ziemlicher Sicherheit rechtliche Schritte einleiten und mit hohen Geldstrafen drohen. ... Den Preis für den Fanatismus ihrer Regierung wird leider die polnische Bevölkerung zahlen.“
Geldhahn zudrehen - trotz möglicher Blockade
Die EU sollte die Zahlungen an Polen einfrieren, fordert Turun Sanomat:
„Die EU hatte bisher Schwierigkeiten, Problemländer auf Kurs zu bringen. Sie kann Finanzmittel an Staaten einfrieren, die gegen die im Grundlagenvertrag verankerte Rechtsstaatlichkeit verstoßen, sie hat aber bisher von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht. ... Auf jeden Fall ist vonseiten der betroffenen Länder mit einer harten Gegenreaktion zu rechnen, denn sie könnten Entscheidungen blockieren, die die Einstimmigkeit der EU voraussetzen. … Bis zu einem EU-Austritt von Polen und Ungarn müsste noch viel passieren, denn die Bürger befürworten die Mitgliedschaft und die finanziellen Unterstützungen sind beachtlich.“
PiS versteckt sich hinter Richterroben
Eine Doppelmoral gegenüber der Justiz wirft Polityka der polnischen Regierung vor:
„In dem Versuch, die Unabhängigkeit der Gerichte zu zerstören, wiederholten Politiker der PiS die Parole, die Justiz habe 'keine demokratische Legitimation', sei also suspekt und habe nicht das Recht, wichtige Entscheidungen zu treffen. Geht es aber darum, die Kohlen aus dem Feuer zu holen, also politisch riskante Projekte zu verwirklichen, wie zum Beispiel die Einführung eines faktischen Abtreibungsverbots oder einen Angriff auf den Vorrang des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht, verstecken sich die PiS-Politiker selbst hinter dem Gewand der angeblich unabhängigen Richter des Verfassungsgerichtshofs.“
PiS erklärt Brüssel den Krieg
Durch das Urteil wird der Konflikt weiter zugespitzt, beobachtet Polityka:
„Das Urteil und seine Begründung klingen fast wie eine Kündigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, weil deren Organe in einer Weise handeln, die die Souveränität Polens bedroht. Es sieht so aus, als ob die PiS-Regierung, die kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds erhalten könnte, der EU den Krieg erklären will. Sie scheint beschlossen zu haben, dass sie nichts mehr zu verlieren hat. Und es kümmert sie wenig, ob die Gesellschaft, die sie an die Regierung gebracht hat, etwas zu verlieren hat.“
Niemand will die Union verlassen
Der Austritt Polens aus der EU steht für das PiS-nahe Portal WPolityce gar nicht zur Debatte:
„Niemand schlägt irgendeine Art von Polexit vor, beginnt ihn oder zieht ihn auch nur in Betracht. Das Urteil ist nur eine in dieser Situation notwendige Erinnerung daran, dass die EU-Institutionen mit spezifischen Kompetenzen ausgestattet wurden und verpflichtet sind, innerhalb dieser Kompetenzen und in einer streng gesetzlich festgelegten Weise zu handeln. Was darüber hinausgeht, ist Sache der Mitgliedstaaten. Zum Beispiel die Organisation der Justiz. Wir wollen und werden Teil der Europäischen Union sein, in der wir die gleichen Rechte wie andere Nationen und Länder haben. Darum geht es im Rechtsstaat und nicht um vertragsfremde Urteile, mediales Trommelfeuer, Versuche, jede Diskussion abzuwürgen und Projekte aus politischen Gründen rechtswidrig zu blockieren.“
EU muss eine Antwort geben
Für den Warschau-Korrespondenten von Die Welt, Phillip Fritz, stellt der Urteilsspruch eine Zäsur dar:
„Zwar bricht die polnische Regierung schon seit 2020 täglich EU-Recht, indem sie Entscheidungen des EuGH zur sogenannten Disziplinarkammer am Obersten Gericht nicht umsetzt. Dass Polen jedoch so grundsätzlich und offen EU-Recht unterminiert, ist eine neue Qualität und eine Kampfansage an die EU. Polen scheidet nun aus der europäischen Rechtsgemeinschaft aus und reißt sie gleichsam mit. Denn polnische Gerichte sind europäische Gerichte, das System beruht transnational auf Vertrauen. ... Wie es jetzt weitergeht, weiß jedoch niemand. Es ist jetzt an der EU, eine Antwort auf die polnische Krise zu finden.“
Verfassung ändern oder raus
Eigentlich hat das polnische Gericht im Urteil auch schon die möglichen Auswege aus dem Dilemma erklärt, meint Corriere della Sera:
„Damit wird das gesamte Rechtssystem, auf dem die EU beruht, infrage gestellt. Der Gerichtshof erklärt auch, dass im Falle eines 'unlösbaren Konflikts' zwischen dem EU-Recht und der polnischen Verfassung folgende Konsequenzen möglich sind: Änderung der Verfassung, Änderung des europäischen Rechts oder Austritt aus der Europäischen Union. Nun muss die Regierung in Warschau entscheiden, ob sie den Polexit will oder die Verfassung ändert.“