Türkei: Warum stürzt die Lira so ungebremst ab?
Die türkische Lira ist auf einen historischen Tiefstand gefallen. Allein 2021 hat die Währung 40 Prozent an Wert verloren, binnen fünf Jahren sogar drei Viertel. Dennoch bleibt Präsident Erdoğan bei seiner Politik, den Leitzins zu senken, und beruft sich darauf, dass der Koran Zinsgeschäfte verbiete. Kommentatoren sorgen sich um die Auswirkungen der Krise.
Türken vertrauen nur noch dem Dollar
Bevor Erdoğan ausländische Feinde für den Absturz der Währung verantwortlich macht, sollte er sich das Verhalten seiner Bürger anschauen, findet Habertürk:
„Weil das türkische Volk der Wirtschaftsführung nicht mehr vertraut, legt es sein Geld in Dollar an. Auf den Banken liegen Einlagen von insgesamt 143,7 Milliarden Dollar, die natürlichen Personen gehören. Firmen dagegen haben bei den Banken 91,5 Milliarden Dollar. ... Seit Jahresanfang hat sich dieser Betrag abgesehen von einem kleinen Anstieg kaum verändert. Das Volk hat in Dollar angelegt und wartet. Wenn es zu Geld kommt, legt es das wieder in Dollar an. Sie sehen, es gibt keine ausländischen Feinde. Die Dollars gehören alle unseren Bürgern.“
Eine schreckliche Zeit steht bevor
Weil insbesondere die Armen unter dem Verfall leiden, wird es zum Aufbegehren kommen, prophezeit der Journalist Hakan Gülseven auf Independent Türkçe:
„Der letzte Bissen des armen Volkes geht an internationale Geldverleiher, imperialistisches Finanzkapital, gigantische ausländische Unternehmen, regierungsnahe Bauunternehmer und natürlich an die schwerfällige Bürokratie und Regierungsunterstützer, die von der Regierung profitieren. ... Die Toleranzgrenze des Volkes ist fast überschritten und die Regierung kann die Reaktion nicht ohne diktatorische Mittel unterdrücken. Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Machen Sie sich auf eine aus wirtschaftlicher, gesundheitlicher und gesellschaftlicher Sicht schreckliche Zeit gefasst!“
Erdoğan ist von niedrigen Zinsen besessen
Woran sich die türkische Geldpolitik orientiert, erläutert Antonis Chatzikyriakou, Dozent für türkische Geschichte an der Athener Panteion-Universität, in Ethnos:
„Der Grund für diese Krise ist Erdoğans Bestreben, die Zinssätze so niedrig wie möglich zu halten. ... Warum ist er so besessen von der Niedrigzinspolitik? In seiner Rhetorik beruft sich der türkische Präsident auf die islamische Lehre, insbesondere auf das Verbot des Wuchers. Dafür gibt es gute ideologische und politische Gründe: Indem er versucht, das Publikum der Rechten und Rechtsextremen um das Schema der 'türkisch-islamischen Synthese' zu scharen, beruft er sich einerseits auf die islamische Ethik und andererseits auf die Besonderheit der Türkei in Abgrenzung vom Westen und von Europa.“
Koran-Ökonomie führt ins Verderben
Erdoğans Prioritäten zeugen nicht gerade von ökonomischem Verstand, ätzt T24:
„Eine solche Ansicht ist vormittelalterlich, hat mit Wirtschaftswissenschaften und -führung rein gar nichts zu tun, bremst in allen Bereichen die Produktion und macht ein 85-Millionen-Land zu einem Wrack. ... Es ist eine bigotte ideologische Herangehensweise, die keinerlei Gültigkeit hat und nirgendwo angewandt wird. Erdoğan glaubt, dass er die wirtschaftlichen Probleme mit dieser islamischen Perspektive lösen kann. Die Praxis und die aktuellen Geschehnisse bestätigen jedoch das Gegenteil. ... Das Land steuert Schritt für Schritt auf den Ruin zu.“
Wir werden diesen Krieg gewinnen
Die regierungstreue Star macht hingegen die politischen Gegner und deren Attacken auf die Wirtschaft verantwortlich:
„Angeführt von Erdoğan ist die Türkei politisch und militärisch erstarkt und wird auch gegen diese wirtschaftlichen Angriffe dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen. ... Die Türkei führt einen wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg. Und jene 'politische Allianz', die sich bei dem Umsturzversuch von 2013 zum ersten Mal darin zeigte, dass die Protestierenden vom Gezi-Park an von ihnen angezündeten Polizeiwagen, Poster von Atatürk und [Kurdenführer] Öcalan nebeneinander aufhängten, bediente sich in der Vergangenheit des Terrorismus und heute der Wirtschaft.“
Polen muss aus den Fehlern der Türkei lernen
Rzeczpospolita-Kommentator Krzysztof Adam Kowalczyk warnt vor einem ähnlichen Szenario in Polen:
„Die Probleme bestehen seit 2018, als der Wechselkurs der türkischen Lira abstürzte, Unternehmen in Devisenschulden ertrinken ließ und eine Rezession auslöste. Das Chaos wird durch das Personalkarussell bei den Zentralbankpräsidenten und ihre Unterordnung unter den Präsidenten noch verschlimmert, der trotz einer Inflation von 20 Prozent gerade eine Zinssenkung durchgesetzt hat. ... Ich schreibe darüber, weil der Złoty gegenüber den Leitwährungen im November um bis zu sechs Prozent gefallen ist und die Angst vor einer Neuauflage des türkischen Szenarios zunimmt. ... Gerade die Abhängigkeit der türkischen Zentralbank von der Politik ist zum Fluch für das Land geworden. Und es lohnt sich, daraus Lehren zu ziehen.“