Kasachstan: Proteste erstickt
In Kasachstans Metropole Almaty ist offenbar wieder Ruhe eingekehrt, nachdem die dortigen Proteste, auch mit Unterstützung sogenannter Friedenstruppen des Militärbündnisses OVKS unter russischer Führung, niedergeschlagen wurden. Tausende Menschen wurden festgenommen, die Zahl der Todesopfer bleibt unklar. Was kommt nun auf das Land zu und wie ist Russlands Vorgehen zu bewerten?
Unzufriedenheit geschickt instrumentalisiert
Für die Süddeutsche Zeitung bleibt die Lage unübersichtlich:
„Zwar scheint der alte Machthaber Nursultan Nasarbajew endgültig entthront zu sein. Mit den Wünschen der Menschen hat das allerdings wenig zu tun. Vielmehr wurde ihr Protest offenbar geschickt instrumentalisiert - mächtige Männer nutzten das Chaos im Land, um eigene Kämpfe hinter den Kulissen auszutragen. ... [A]llerdings ist damit noch nicht entschieden, ob sich Tokajew gegen Nasarbajews gesamte Clique auf Dauer behaupten kann. Dem Volk gegenüber wird er zeigen müssen, ob er die neue Macht für Reformen oder für Repressionen nutzt. Der Anfang stimmt wenig optimistisch.“
Nurmehr Satellitenstaat
Kasachstan hat jede Souveränität preisgegeben, konstatiert die Kronen Zeitung:
„Russland, zu Hilfe gerufen, hat seinen Fuß in die Tür gestellt - so wie mit der 14. russischen Armee in dem von Moldawien abgespaltenen Transnistrien. Kasachstans künftiger Platz ist nun im Ring von Satellitenstaaten entlang der russischen Grenze - sozusagen ein neues Belarus, aber mit Öl und Gas. (…) Wegen des Schießbefehls des Präsidenten hat der Westen erste Sanktionen gegen Kasachstan verhängt. Sie werden aber so wenig bewirken wie die vielen anderen Sanktionen - außer denen zu schaden, die sie nicht verdient haben.“
Eine Nummer zu groß für russische Kontrolle
Wprost glaubt nicht, dass die Geschicke Kasachstans jetzt einfach wieder in Moskau bestimmt werden können:
„Russland begeht einen Fehler, indem es sogenannte Friedenstruppen nach Kasachstan entsendet. Sie werden zu klein sein, um ein Land zu kontrollieren, das so groß ist wie Europa von der Krim bis zum Atlantik. ... Die Proteste sind spontan und von der Armut bestimmt, aber es ist kein Geheimnis, dass das Nato-Mitglied Türkei seit Jahren in gute Beziehungen zu den Kasachen investiert hat. Im Namen der Kulturgemeinschaft der Turkvölker wurden militärische, politische und kulturelle Beziehungen aufgebaut, die beispielsweise in der Entwicklung einer kasachischen nationalen Identität und der Aufgabe des allgegenwärtigen kyrillischen Alphabets zugunsten des lateinischen Früchte trugen.“
Das ist eine innere Angelegenheit
Moskau hätte sich aus dem Konflikt heraushalten sollen, meint der Oppositionspolitiker Leonid Gosman auf Echo Moskwy:
„Wie es aussieht, beschloss jemand sehr Mächtiges angesichts der sozial-politischen Protestwelle in Kasachstan, die Lage auszunutzen und Banditen nach Almaty zu schleusen, die dort wüteten. Hinter ihnen mögen [Ex-Präsident] Nasarbajew oder seine Leute stehen, um die ganze Macht zurückzuholen, oder Tokajew, um Nasarbajew loszuwerden - oder sonst wer, der zugleich Nasarbajew und Tokajew loswerden wollte. Was haben wir da verloren? ... Es gab also keine äußere Aggression. Dies war ein interner Konflikt und damit keine Sache der OVKS.“
Neuer ethnischer Konflikt droht
Russlands Militärpräsenz bedroht das Verhältnis zwischen Kasachisch- und Russischsprachigen, erläutert Tygodnik Powszechny:
„Die Intervention russischer Truppen in Kasachstan könnte die kasachischen Nationalisten stärken und die Beziehungen zwischen der kasachischen und der russischsprachigen Bevölkerung, den Nachkommen slawischer Siedler und Vertriebener, die immer noch etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, belasten. Die Slawen leben hauptsächlich in der Steppe im Norden des Landes, nahe der Grenze zu Russland. Russische Nationalisten erheben seit der Gründung des kasachischen Staates Anspruch auf diese Gebiete.“
Eskalation nicht ausgeschlossen
Der Einmarsch ausländischer Soldaten könnte die Wut der Demonstranten auch weiter anheizen, gibt die taz zu bedenken:
„Ungeachtet der Tatsache, dass bislang unklar ist, welches Mandat diese Soldaten überhaupt haben, dürfte ihre Präsenz Tokajew bei der Bevölkerung eher schaden und den Volkszorn weiter befeuern. Kurzum: Noch ist völlig unklar, wie diese Machtprobe ausgehen wird. Das heißt aber auch, dass eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen ist. Sollte dieser Fall eintreten, wäre das verheerend. Und das nicht nur für Kasachstan.“
Das größte Interesse haben Moskau und Peking
Welche Interessen des Auslands im rohstoffreichen Kasachstan konkurrieren, analysiert der Politologe Ilja Kusa in Apostroph:
„Russische, britische und amerikanische Unternehmen arbeiten dort in vielen Öl- und Gasfeldern. Meiner Meinung nach ist eine Destabilisierung an sich für niemanden von Vorteil. Politische Veränderungen können für den Westen von Vorteil sein, der sich eine loyalere, pro-westliche Regierung in Kasachstan wünscht. Die Russen wiederum sind seit langem unzufrieden mit der nationalistischen Rhetorik der kasachischen Behörden. … Für China ist Kasachstan ein wichtiges Glied in seiner 'Seidenstraße' durch Zentralasien. Sollte die Situation außer Kontrolle geraten, werden Russland und China daher die Ersten sein, die versuchen, der amtierenden Macht zu helfen.“
Ohne Nasarbajew wird der Wandel leichter
Chancen für echte Reformen macht Russlandforscher Máté György Vigóczki in Azonnali aus:
„Präsident Tokajew hat bereits festgelegt, dass es nun primär darum geht, zu prüfen, was der Hintergrund für den Ausbruch der Proteste ist. Falls diese Arbeit wirklich gründlich gemacht wird, könnte das dazu führen, dass die nötigen - und bereits auf den Weg gebrachten - Reformen in Politik und Wirtschaft tatsächlich zustande kommen. Insbesondere weil Tokajew von jetzt an freier agieren kann. Denn er ist [den langjährigen ehemaligen Staatschef] Nursultan Nasarbajew losgeworden, der zwar vor zwei Jahren zurückgetreten war, aber weiterhin großen Einfluss hatte.“
Schlechte Grundlage für Ukraine-Gespräche
Die ohnedies schwierigen Beziehungen des transatlantischen Bündnisses zu Russland werden nun noch komplizierter, fürchtet Financial Times:
„Die Unruhen in Zentralasien dürften bei den Gesprächen mit den USA und der Nato zum russischen Truppenaufbau an der Ukraine in der nächsten Woche für eine unangenehme Ausgangslage sorgen. Putin wird sie wahrscheinlich - unbegründet - als westliche Einmischung interpretieren, die zeitlich mit dem Beginn der Gespräche koordiniert wurden. Die Kreml-Delegierten werden sicherlich angewiesen, die Forderung des Präsidenten zur Nato-Begrenzung durchzusetzen.“
Weit weg und doch vor der Haustür
Warum die Lage in dem zentralasiatischen Land auch für Lettland bedeutend ist, erklärt Neatkarīgā:
„Wenn die 'Revolution' erfolgreich ist, die Unruhen andauern oder es zum großen Blutvergießen kommt, könnte das die Lage in der gesamten ehemaligen Sowjetunion verändern. Obwohl Kasachstan nur etwa zwei Prozent des Weltöls fördert (weniger als zwei Millionen Barrel pro Tag), würden größere Unruhen in dieser Region den Pessimismus in Bezug auf die ohnehin instabile Lage auf dem Energiemarkt verstärken. Dies umso mehr, weil Kasachstan der weltweit größte Uranproduzent mit einem Anteil von 41 Prozent der Weltproduktion ist. Es wäre daher töricht zu glauben, dass die Ereignisse in diesem zentralasiatischen Land weit weg von uns stattfinden und deshalb für uns nicht relevant sind.“