Europatag: Kontroverse um Reformvorschläge
Die lange Liste der Reformideen, die zum Europatag und dem Ende der Zukunftskonferenz am Dienstag in Straßburg vorgestellt wurde, beschäftigt die Presse. Ist es realistisch, dass die Mitglieder einer Änderung der EU-Verträge zustimmen, um das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben? Und was ist von Macrons Idee zu halten, für Nicht-Mitglieder einen neuen europäischen Verbund einzurichten?
Ein Vorzimmer der EU hätte seine Vorzüge
Der Journalist Ovidiu Nahoi hält den vorgeschlagenen Verbund für eine gute Idee und schreibt in der rumänischen Version von Radio France International:
„Der Beitritt zur EU ist ein komplizierter und langer Prozess, der sicherstellen soll, dass das Kandidatenland die Mindeststandards für eine Demokratie und für funktionierende Behörden erfüllt. Zudem ist sehr wichtig, dass es über eine funktionierende Wirtschaft verfügt, um der Konkurrenz auf dem Binnenmarkt standzuhalten. Es gibt ernsthafte Befürchtungen, dass ein zu schneller Beitrittsprozess, der [wie im Falle der Ukraine] durch einen allgemeinen Enthusiasmus ausgelöst wurde, nicht nur den Beitrittskandidaten schaden, sondern auch die Union schwächen würde. ... Die Einrichtung eines Vorzimmers der EU hätte also durchaus ihre Vorzüge.“
Lauter Stolperfallen
Eine Reform der EU-Verträge birgt Risiken, mahnt Le Soir:
„Die Verträge zu ändern, bedeutet auch, den Skeptikern, den Nostalgikern des Nationalstaats und den umtriebigen Nationalpopulisten den roten Teppich auszurollen. Das ist Demokratie. Doch Überarbeiten führt nicht zwangsläufig zu mehr und besserem Europa. Es besteht das Risiko eines Rückschritts dort, wo man Fortschritt anstrebt. ... Quantensprünge können zudem durch echten politischen Willen innerhalb der bestehenden Verträge erreicht werden. … Die Verträge also ändern? Ja, wenn, wie Emmanuel Macron sagt, das Ziel 'sehr klar' identifiziert sowie abgesteckt ist und das europäische Projekt in Sachen Frieden, Werte, sozialer Schutz und Recht gestärkt wird. ... Aber die Büchse der Pandora öffnen? Vorsicht!“
Schlüsselbaustellen sofort angehen
Emmanuel Macron drängt auch auf zügige Fortschritte der EU-Politik, die keiner Änderung der Verträge bedürfen, betont die Wirtschaftszeitung Les Echos:
„Ausstieg aus fossilen Energien, gemeinsame Verteidigungsinstrumente, Unabhängigkeit bei der Lebensmittelversorgung, et cetera. Die Europäer müssen sich auch mit der Finanzierung neuer Investitionen im Zusammenhang mit diesen Prioritäten befassen, wobei Paris auf einen neuen europäischen Plan drängt, während Berlin bremst. Das Ganze vor dem Hintergrund der Anpassung der Haushaltsregeln und eines beunruhigenden wirtschaftlichen Kontexts. Bei diesen Schlüsselbaustellen kann man nicht auf eine sehr hypothetische Änderung der Verträge warten.“
Brüssels Bärendienst für Dänemark
Am 1. Juni stimmt Dänemark darüber ab, ob es den Verteidigungsvorbehalt des Landes aufgeben soll. Dass von der Leyen und Macron nun das Einstimmigkeitsprinzip bei der militärischen Zusammenarbeit infrage stellen, ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die vor der Aufgabe des Verteidigungsvorbehalts warnen, meint Jyllands-Posten:
„Die Absicht, die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU durch Mehrheitsentscheidungen effektiver zu machen, wurde sicherlich guten Herzens geäußert, aber von dänischer Seite drei Wochen vor der Abstimmung gesehen, ist dies ein Bärendienst aus Brüssel. Im ursprünglichen Sinne des Wortes: eine Handlung, die gut gemeint ist, aber mehr schadet, als nützt.“
Vorschläge sollten ernst genommen werden
Dass nicht viele von der Konferenz Notiz genommen haben, kam manchen Staatschefs wohl ganz gelegen, vermutet die Süddeutsche Zeitung:
„Ihnen wäre eine weitere Modernisierung der EU eher lästig, weil diese mit einem Machtzuwachs fürs Europäische Parlament einhergehen dürfte. … Allerdings täten die Staats- und Regierungschefs gut daran, die Vorschläge zur Gesundheits- oder Klimapolitik, aber auch zur Funktionsweise der EU nicht gleich wieder in der Schublade verschwinden zu lassen, sondern sich ernsthaft mit ihnen zu befassen. ... [A]uch, um zu beweisen, dass die Zukunftskonferenz eben nicht nur das war, was viele von Anfang an in ihr sehen wollten: reine Beschäftigungstherapie.“
Politische Handlungsfähigkeit in Gefahr
Der Standard wünscht sich eine Diskussion auch im Bereich der Außenpolitik:
„Angesichts der für den ganzen Kontinent bedrohlichen Lage in der Ukraine wäre es jetzt zum Beispiel notwendig, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Außenpolitik zu überdenken. Es geht ja nicht um militärisches Engagement, sondern um bloße politische Handlungsfähigkeit, die massiv gefährdet ist. Doch es fehlt an Einigkeit, an Einsicht, an Kompromissbereitschaft. Letztlich mangelt es an Vertrauen - ein Vertrauen, das man den eigenen Verbündeten im 'Friedensprojekt Europa' aber vielleicht doch entgegenbringen könnte. Und sollte.“
Dynamik für bessere Migrationspolitik nutzen
El País legt den Fokus auf die EU-Flüchtlingspolitik:
„Die Europäische Union sollte die Reformdynamik der Konferenz über die Zukunft Europas nutzen und vergleichen, wie Flüchtlinge auf unserem Kontinent je nach ihrer Herkunft behandelt werden. ... Der Bericht spricht von der Vereinfachung und Beschleunigung des Asylverfahrens, der Vereinheitlichung der Kriterien und der Einrichtung einer einzigen Anlaufstelle. ... Diese Frage verdient einen eigenen strategischen Kompass, wie der kürzlich verabschiedete Kompass für die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. ... Die EU sollte auch einen humanitären Klimapass für Migranten einführen, die vor Naturkatastrophen oder der Zerstörung ihrer Ökosysteme fliehen. ... Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“
Das Gegengift zu Putin
Emmanuel Macron hat in seiner Ansprache den richtigen Ton gefunden, freut sich La Repubblica:
„Macrons Rede zum Abschluss der Konferenz über die Zukunft Europas, aber auch zum Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus, schien absichtlich als Gegengift zu Putins Rede gehalten worden zu sein. ... Er lieferte einen Diskurs der Hoffnung und der Inklusion gepaart mit der Idee einer europäischen Gemeinschaft von Demokratien. Diese würde es ermöglichen, auch diejenigen nach Europa zu holen, die Jahre warten müssten, um effektive Mitglieder zu werden, wie die Ukraine - aber auch diejenigen wieder aufzunehmen, die Europa verlassen wollten, wie Großbritannien. Vor diesem Hintergrund ist die Warnung, der Friede werde nicht auf der Demütigung Russlands aufgebaut werden, nur konsequent.“
Europa bleibt attraktiv
Der Krieg gegen die Ukraine und die Folgen des Brexit lassen die EU in einem besseren Licht erscheinen, findet L'Opinion:
„Für alle innerhalb des Blocks sind die Turbulenzen an seinen Außengrenzen einerseits eine wichtige Erinnerung daran, dass das europäische Projekt trotz all seiner Mängel auf demokratischen Werten beruht, die angesichts eines imperialistischen Russlands, der potenziell trumpistischen USA und eines nationalistischen Chinas anziehend bleiben. Andererseits sind sie auch ein Versprechen, dass die europäischen Strukturen, wie ein altes Gebäude, nie aufhören werden, erneuert zu werden.“