Ukraine: Was darf der Frieden kosten?
Vor dem Hintergrund neuer, heftiger russischer Angriffe in der Ostukraine diskutiert Europa kontrovers darüber, ob und wie man den Krieg beenden könnte. Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz telefonierten am Samstag mit Russlands Präsident Putin, um ihn zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Zuvor hatten Vorschläge vom ehemaligen US-Außenminister Kissinger für Wirbel gesorgt. Die Presse ist gespalten.
Putin kennt nur die Sprache der Waffen
Eesti Päevaleht ist über das Telefonat von Scholz und Macron mit Putin empört:
„Man sollte zur Zeit nur in der Sprache der Waffen mit Putin reden. Die bisherigen Kernländer der EU - sagen wir es direkt - sind in dem Konflikt erbärmlich aufgetreten und ohne die europäischen Werte zu ehren. Es ist nicht nur moralisch falsch, mit dem Kriegsverbrecher Kompromisse zu suchen. Auch realpolitisch ist schwer zu erkennen, wie eine Atempause für Putins Russland ein anderes Ergebnis haben könnte als einen Mangel an Stabilität und endlosen Schrecken. Für das Problem Putin gibt es keine bessere Lösung, als einerseits die Ukraine mit Waffen zu beliefern und andererseits die Wirtschaftssanktionen gegen Russland deutlich auszubauen.“
Russland nicht beschwichtigen
Sega warnt davor, durch eventuelles Aufgeben der Krim und des Donbas die Fehler der Geschichte zu wiederholen:
„Die größte Furcht der Ukraine ist, dass führende Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien geneigt sind, gegenüber Russland die Taktik vom Münchner Abkommen von 1938 anzuwenden, als ein Teil der Tschechoslowakei Nazi-Deutschland einverleibt wurde. Die politische Philosophie dahinter war, den Aggressor zu beschwichtigen, indem sein Appetit mit einem Bissen des fremden Landes gestillt wird. ... Diplomatie ist die Kunst des Möglichen, doch wenn sie zu einem künstlichen Frieden führt, öffnet sie praktisch das Tor zum Krieg.“
Kyjiw stellt die Bedingungen
Politiken verweist darauf, dass nur die Ukraine über Verhandlungen mit Russland entscheiden darf:
„Wo die Schmerzgrenze für die Ukraine sowohl in Bezug auf die Verlustzahlen als auch auf die Zugeständnisse zur Erlangung des Friedens verläuft, hängt allein vom Land selbst ab. Die Aufgabe des Westens ist einfach: Wir müssen zusammenstehen und deutlich machen, dass wir der Ukraine helfen werden, sich zu verteidigen, solange die Regierung von Kyjiw es will und braucht. “
Nicht nur Deutschland zögert
Die Führung der Ukraine sollte ihre Erwartungen mäßigen, rät Hospodářské noviny:
„Henry Kissinger sprach laut aus, was die Mehrheit westlicher Politiker hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Nicht nur Deutschland zögert, schwere Waffen zu liefern, auch andere große Staaten vermitteln Präsident Wolodymyr Selenskyj, realistischer zu sein. ... Wenn die Ukraine auf dem EU-Gipfel den Status eines Vollkandidaten fordert, wird das der erste Prüfstein dafür sein, wie ernst es der Westen mit der Ukraine in der Zukunft meint. Der zweite sind die Waffen- und Geldlieferungen an die Ukraine, die sich in den letzten Wochen anscheinend verlangsamt haben, da der Westen begonnen hat, übertriebene ukrainische Kriegsziele zu fürchten. “
Die Gefahr eines Atomkriegs besteht
Der Westen sollte mit dem bisher Erreichten zufrieden sein, meint der Politiker der ungarischen Sozialisten und Publizist Gyula Hegyi in Index:
„Der Westen hat bereits einen Sieg zu feiern: das militärische Prestige von Moskau wurde erschüttert. Die Stärke der russischen Armee ist längst nicht so fürchterlich, wie ihr Ruf war. ... Die wahre Stärke dieser Armee sind jedoch die nuklearen Waffen. Je tiefer Russland in eine Niederlage gedrängt wird, desto größer wird die Gefahr, dass Russland zu diesen Waffen greift. Alleine deswegen würde es sich lohnen, mit ihm frühestmöglich ein Frieden zu schließen. Ein geschwächtes, aber nicht geschlagenes Russland würde für den Westen das kleinstmögliche Sicherheitsrisiko darstellen.“
Verhandlungsfrieden statt Abnutzungskrieg
Athens Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis fordert in einem Gastkommentar in Der Standard schnelle Friedensgespräche mit Moskau:
„Beide Seiten müssen Gewinne erzielen, die ihre Verluste deutlich übersteigen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. ... Würde Putin sich darauf einlassen? Womöglich ja, sofern der Vertrag ihm drei Dinge bietet. Putin wird wollen, dass die meisten Sanktionen aufgehoben werden. Er wird außerdem wollen, dass die Frage der russischen Annexion der Krim 2014 ignoriert wird. ... Und er wird Sicherheitsgarantien wollen, die nur die USA ihm bieten können, darunter das Versprechen eines Sitzes an dem Tisch, an dem die neuen Sicherheitsvereinbarungen für Europa ausgehandelt werden.“
Ein würdiger Ausweg
Für Correio da Manhã wären auch größere Gebietsverluste der Ukraine an Russland vertretbar:
„Der Krieg kommt Waffenhändlern, Spekulanten und den Diktaturen zugute, die von überteuertem Öl und Gas profitieren. Aber die meisten Menschen auf der Welt zahlen eine zu hohe Rechnung, von der galoppierenden Inflation bei Energie und Lebensmitteln bis hin zur drohenden Hungersnot in weiten Teilen der Welt. Wenn der Preis für das Ende dieses Krieges die Übergabe der Krim und des Donbass an Russland ist, und der Ukraine die Unabhängigkeit und Integrität des verbleibenden Territoriums garantiert wird, wäre dies ein würdiger Ausweg.“
Besatzungszone würde zum Klotz am Bein
The Insider erklärt, warum eine dauerhafte Besetzung des bislang eroberten Territoriums für Russland nicht vorteilhaft wäre:
„Die besetzten Gebiete sind völlig zerstört und haben viel Bevölkerung verloren. Sie sind eine wirtschaftliche Wüste, für deren Unterhalt und Kontrolle es sehr viele Kräfte und Ressourcen braucht - bei ständigen Verlusten der Besatzungsmacht durch Artilleriebeschuss und Partisanenakte. Selbst der sogenannte 'Landkorridor' auf die Krim hat null wirtschaftlichen Nutzen. Das Einzige, was Russland mit dieser Wüstenei gewänne, wäre eine Pufferzone, die die Krim und die [2018 eröffnete] Brücke dorthin schützt, sowie die Aufrechterhaltung einer dauerhaften Bedrohung der ukrainischen Häfen. Alles in allem ein äußerst kostspieliger Schutz der Moskauer Erwerbungen von 2014.“
Ukraine vor zynischem Realismus bewahren
De-Volkskrant-Kolumnist Arie Elshout widerspricht Zugeständnissen an Moskau vehement:
„Der französische Präsident Macron setzt auf Diplomatie. Putin darf nicht erniedrigt werden, sagt er. Das ist zynisch. Es gibt nur eine Partei, die Mitleid verdient: nicht diejenige, die überfällt, sondern diejenige, die überfallen wurde. ... Damit Putin sein Gesicht nicht verliert, müsse man ihn etwas gewinnen lassen, ihm etwas geben, und das sei nur möglich auf Kosten der Ukraine. ... Die Ukrainer müssen aufpassen, dass sie nicht reingelegt werden von den sogenannten Realisten in Politik und Denkfabriken, immer bereit, die Demokratie, Souveränität und territoriale Integrität von anderen zu verschachern.“
Europa muss seine Schwächen beheben
Putins verstärkte Angriffe in der Region Luhansk zeigen klar, dass ihn das Drängen von Macron und Scholz auf eine diplomatische Lösung null interessiert, meint L'Opinion:
„Solange Putin bei einer Fortsetzung des Krieges nicht mehr zu verlieren hat als bei einer Beendigung, weicht er nicht zurück. ... Dieses Paradigma sollten Europas Regierende in Betracht ziehen, wenn sie Anfang dieser Woche Antworten auf die Schwächen der EU in Sachen Lebensmittelsicherheit, Energieabhängigkeit und Verteidigungskapazitäten suchen, die durch den Ukraine-Krieg sichtbar werden. Es ist Zeit, Europa die Mittel zu verleihen, um das Kräfteverhältnis wiederherzustellen. Dazu bedarf es einer strategischen Autonomie und mehr Souveränität, aber auch der Festlegung roter Linien.“