Was folgt auf Johnsons Rücktritt?
Nach dem Abtreten von Boris Johnson als Parteichef hat bei den Tories das Gerangel um dessen Amt begonnen. Unter den Kandidaten wollen die Konservativen bis September den Johnson-Nachfolger auswählen, der dann ab Herbst auch das Land regieren soll. Inwieweit ein neuer Premier auch zu einem Wandel in der Politik führt, beschäftigt Europas Presse.
Die im Dunkeln sieht man nicht
Die Opposition wird erstmal nicht vom Kampf um die Johnson-Nachfolge profitieren, ist The Independent sicher:
„Das einzige, was die Wahl einer neuer Führung garantiert mit sich bringt, ist Medienberichterstattung satt. Starmer wird in den nächsten zwei Monaten Schwierigkeiten haben, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - wenn er also unliebsame, aber notwendige Dinge zu erledigen hat, dann ist jetzt die Zeit dafür. ... Für Labour dürfte es frustrierend sein, dass die Führungsfrage nun das einzige Gesprächsthema ist. Für einen Moment schien es möglich, dass die Tories in Schuldzuweisungen und Bürgerkrieg versinken würden. ... Nach dem Wahlkampf wird der neue Premier in den Meinungsumfragen von einem Flitterwochen-Vertrauensvorschuss profitieren.“
Brexit-Umkehr jetzt beginnen!
Wolfgang Münchau meint in El País, dass die britischen EU-Befürworter diesen Zeitpunkt der Schwäche beim Gegner nutzen sollten:
„Für mich endete Johnsons Amtszeit als Premier in dem Moment, als [Dominic] Cummings ging. In seiner Funktion hat er Fehler gemacht, er war zu arrogant und zu naiv in Bezug auf Politik. Aber er verstand die Art des Übergangs, der vollzogen werden musste. Jetzt sind wir wieder bei der üblichen Politik. Hören Sie sich nur an, wie sich die konservativen Spitzenkandidaten über Steuersenkungen streiten. Deshalb denke ich, dass jetzt nicht der schlechteste Zeitpunkt ist, um die Saat für eine Brexit-Umkehr zu legen.“
Auf London kann sich die Ukraine verlassen
In der Ukraine-Politik wird Großbritannien den Kurs wohl halten, meint Iliya Kusa vom Thinktank Ukrainian Institute for the Future auf Strana:
„Der Rücktritt Johnsons wird wenig ändern. Die Politik der Unterstützung der Ukraine und der Konfrontation mit Russland ist keine isolierte Idee eines Einzelnen, sondern ein Konsens innerhalb der Elite. Praktisch alle Parteien in Großbritannien stehen Russland kritisch gegenüber und werden ihre Haltung nicht wesentlich ändern. Was sich ändern könnte, ist die Art der Rhetorik (Johnson war der Beste, wenn es um übertriebenes Pathos und Theatralik bei seinen Auslandsreisen ging, da wird es schwer sein, ihn zu übertreffen), die Koordinierung mit den Verbündeten und die Priorisierung der Ziele.“
Antirussischer Kurs wird bleiben
Verteidigungsminister Ben Wallace galt als einer der Favoriten für die Nachfolge, kündigte aber zuletzt an, nicht kandidieren zu wollen. Unabhängig von der Wahl wird sich in der Russlandpolitik kaum etwas ändern, glaubt Iswestija:
„Wer auch immer Johnsons Nachfolger wird - und für Wallace gilt das erst recht: Großbritanniens außenpolitischer Kurs wird sich nicht ändern. ... Es bleibt bei der Allianz mit den USA, der Aktivität in der Nato, den widersprüchlichen Beziehungen zur EU, der Unterstützung für Kyjiw. ... Die antirussische Richtung bleibt bewahrt, das Vereinigte Königreich erfüllt sie stringent auf Grundlage festgeschriebener Doktrinen.“
Ein Zeichen demokratischer Reife
La Stampa lobt den Mut derjenigen, die sich von Johnson abgewandt haben:
„Der Satz ist immer derselbe, einschüchternd: Wie kann man eine Regierungskrise in Kauf nehmen, während ein Krieg droht? ... Nun, der Krieg ist da, und wie! Wir kämpfen seit mehr als 130 Tagen mit allem, was wir haben, gegen Russland: Waffen, Wirtschaft, Diplomatie, Propaganda, Kultur. Und jetzt zeigt sich, dass solide, tief verwurzelte Demokratien, selbst inmitten eines Krieges, keine Angst vor Krisen haben. Sie nehmen sie in Kauf. Sie stellen sich selbst infrage, sie debattieren, sie verwerfen die Psychologie der belagerten Festung und wählen Unfähige und Aufrührer ab. Es sind eher die Tyranneien, die nach Einstimmigkeit, Schulterschluss und nach der 'union sacrée' rufen.“
Bitte auch als Premier sofort abtreten
Dass Boris Johnson interimsmäßig Regierungschef bleiben will, ist für The Daily Telegraph inakzeptabel:
„Die Regierung steht vor vielen wichtigen Herausforderungen und Entscheidungen, wie zum Beispiel die Gehaltsabschlüsse im öffentlichen Sektor in einer Zeit grassierender Inflation. Außerdem droht ein Sommer voller Streiks. Wird ernsthaft angenommen, dass Boris Johnson die nötige Autorität besitzt, um sich dieser Themen anzunehmen? ... Er hatte recht, als er sagte, dass es dringende Probleme gebe, um die sich die Regierung kümmern müsse. Deshalb ist die Nachfolgefrage an deren Spitze innerhalb von Tagen, nicht Wochen – und schon gar nicht innerhalb von Monaten – zu klären.“
Denn sie wussten, was sie taten
Die Aftonbladet-Leitartiklerin Susanna Kierkegaard ist wütend über den Ablauf des Rücktrittsgeschehens:
„Die Konservative Partei wusste, dass Boris Johnson ein Lügner war, der alles tun würde, um an die Macht zu kommen. ... Sie wählten ihn trotzdem zu ihrem Anführer, sie wollten die Vorteile von Boris Johnson. Jetzt weigern sie sich, mit den Konsequenzen zu leben. Ich will das, was Boris Johnson getan hat, nicht kleinreden. ... Ich habe genug von Politikern, die meinen, sie müssten sich nicht an ihre eigenen Gesetze halten. ... Aber ich habe auch die Nase voll von Parteien, die opportunistisch despotische Führer wählen und es dann bereuen, sobald ein bisschen Gegenwind kommt.“
Sein letzter Fehler wartet noch auf ihn
ABC erwartet noch ein unwürdiges Endspiel:
„Der letzte seiner Fehler wird darin bestehen, seine eigenen Parteikollegen zu zwingen, ihn aus der Downing Street zu vertreiben. Selbst unter den jetzigen Umständen zieht er es vor, alle Regeln der politischen Klugheit und des Anstands zu ignorieren, um sich an sein Amt zu klammern. ... Johnson war nie dafür bekannt, dass er sich mit Persönlichkeiten umgab, die talentierter waren als er selbst, damit ihn niemand in den Schatten stellen konnte. Aber selbst in diesem Machtzirkel kann man jetzt mehr politische Würde erkennen als in der unverbesserlichen Haltung des Premiers.“
Wunsch nach mehr Nüchternheit
Tagesschau.de hofft auf ein Ende des Populismus in Großbritannien:
„[D]er Wunsch, nun wieder nüchterner, weniger disruptiv regiert zu werden, lässt sich sogar wissenschaftlich nachweisen. Die Britinnen und Briten haben die Nase voll von einem Premier, der Fähnchen-schwenkend mit wuscheligen Haaren ein Drahtseil hinabgleitet. Machen wir uns nichts vor: Der Nachfolger oder die Nachfolgerin wird den grundlegenden konservativen Kurs wahrscheinlich beibehalten: eine restriktive Asylpolitik, den Brexit. Doch es gibt die Chance auf eine bessere Wirtschaftspolitik und auf einen Partner, mit dem die Verhandlungen zum Nordirland-Protokoll möglicherweise einfacher zu führen sind. Langweilige Politiker sind manchmal gar nicht so schlecht.“
Ukrainer werden ihn vermissen
Johnsons Ukraine-Politik war ein seltener Lichtblick, lobt Financial Times:
„Die einzige ausländische Hauptstadt, in der Johnson wirklich vermisst werden wird, ist Kyjiw. Unter den westlichen Regierungen war die britische, angeführt vom Premierminister, eine jener, die die Ukraine am stärksten unterstützt haben - sowohl in diplomatischer als auch in militärischer Hinsicht. In den vergangenen Wochen wirkte Johnson in der Ukraine oft glücklicher als in seiner Heimat. Großbritanniens solide Unterstützung für die Ukraine spiegelt einen stabilen parteiübergreifenden innenpolitischen Konsens wider. Dieser wird mit ziemlicher Sicherheit weiterbestehen, ganz gleich, wer der nächste Premierminister sein wird.“
Europa braucht ihn mehr denn je
Kaum ein Politiker weist Putin stärker in die Schranken, meint die Boulevardzeitung Blick:
„Johnson hat sich vieles geleistet. … Doch diese innenpolitischen Verwerfungen sollten nicht davon ablenken: Europa braucht Johnson mehr denn je. Kein Politiker der Welt – ausser dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj – hat Putin klarer die Leviten gelesen. … Johnson sei mehr Clown denn Premier, monieren seine Gegner. Mag sein. Was sie übersehen: Die Ernsthaften, die derzeit den Kreml halbwegs bändigen, sind Clowns wie Johnson oder der Ex-Komiker Selenskyj. Die Welt braucht sie dringend. Nur sie scheinen wirklich willens, die Show des brutalen Dompteurs in Moskau zu stören.“
Mit der Geduld am Ende
Die Briten haben offensichtlich genug, meint Ilta-Sanomat:
„In den letzten Monaten ist Johnson für seine Unnachgiebigkeit in der Ukraine-Frage gelobt worden. Johnsons Problem ist, dass die Ukrainer nicht an den Wahlen in Großbritannien teilnehmen. Zu Hause behaupten Johnsons Gegner, er poliere mit dem Krieg nur sein Image auf. Bisher hatte Johnson seine Skandale mit rücksichtsloser Grobheit überstanden. Die Briten brachten immer wieder Verständnis für ihren Premierminister auf, der lächelnd von einem Skandal zum nächsten stolperte. Nun geht ihre Geduld zu Ende.“
Nicht kleinzukriegen
Trotz aller Widrigkeiten wollte Boris Johnson partout an der Macht bleiben, stellt Jutarnji list fest:
„Johnson kämpft momentan mit der schlimmsten Führungskrise. ... Sieben von zehn Briten sagen, dass Johnson zurücktreten solle, laut einer Blitzumfrage von You-Gov unter 3.000 Befragten. Trotzdem hat Johnson den Parlamentsmitgliedern mitgeteilt, dass er beabsichtige, weiterhin Premier zu bleiben. ... Die Konservativen fürchten am meisten, dass, wenn sie Johnson [jetzt] ablösen, dies noch verheerendere Folgen für die Partei und das Vertrauen der Öffentlichkeit haben würde.“
Das Spiel ist aus
Der Premier hat das Vertrauen von Partei und Bevölkerung verspielt, bilanziert The Times:
„Es ist unvorstellbar, dass sich Johnson von diesem Autoritätsverlust erholen wird, um das Land so effektiv führen zu können, wie es das in dieser akuten Krisenzeit braucht. ... Jeder Tag, den er bleibt, vertieft das Gefühl des Chaos. Zum Wohle des Landes sollte er gehen. Was Johnson auf diese Position gebracht hat, sind die gleichen Charakterfehler, die seine gesamte Karriere ausgezeichnet haben: Sein ständiges Lügen und die eklatante Missachtung der Normen und Konventionen, die im öffentlichen Leben zwingend notwendig sind.“
Reichlich späte Einsicht
Dass sich die beiden Minister erst jetzt von Johnson abwenden, lässt Zweifel an ihren Motiven aufkommen, gibt The Guardian zu bedenken:
„Die frommen Worte entpuppen sich als hohle Phrasen, wenn man sich vor Augen hält, wie oft alle Angehörigen des Kabinetts, jedes unterwürfige Regierungsmitglied und jeder aufstrebende konservative Hinterbänkler das völlig unhaltbare Verhalten von Boris Johnson verteidigt haben. ... Die beiden Minister, die aus 'grundsätzlichen' Überlegungen zurückgetreten sind, - und vermutlich werden weitere folgen - haben so viel toleriert, dass sich der Eindruck aufdrängt, das Motiv für die Rücktritte sei politisches Kalkül und nicht das Hochhalten moralischer Prinzipien.“
Genug vom monarchenhaften Regieren
Seine eigene Partei hat die Nase voll vom Führungsstil Johnsons, glaubt De Volkskrant:
„Dass der Premier seinen Kollegen [Chris] Pincher so lange verteidigte, ist bezeichnend für seinen Führungsstil. Johnson fordert Loyalität von seinen Leuten und ist andererseits selbst auch loyal, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. Sein Führungsstil wurde bereits verglichen mit dem eines autokratischen Königs, einschließlich Hofhaltung. Außerdem hat Johnson, ein Ex-Journalist, die Neigung, dem Druck der Medien nicht nachzugeben. Erst wenn es gar nicht anders geht, lenkt er ein. Nach dem Rücktritt von zwei Ministern nimmt der Druck auf Johnson zu.“