Bidens Nahostreise: Eine ernüchternde Bilanz?
Es ging um Sicherheitsinteressen Israels, Menschenrechte in Saudi-Arabien und vor allem die weltweite Ölförderung: Auf seiner mehrtägigen Nahostreise versuchte US-Präsident Joe Biden den Spagat zwischen Realpolitik und Mahnung zu Gewaltverzicht. Die europäische Presse diskutiert, welche Interessen des Westens das größte Gewicht haben und inwieweit sie durchsetzbar sind.
Das Öl ist das wichtigste Interesse
Polityka gibt sich desillusioniert:
„Eines der Hauptziele von Bidens Besuch in Dschidda, wenn nicht sogar das wichtigste, war es, [Mohammed bin Salman] davon zu überzeugen, dass Saudi-Arabien seine Ölproduktion erhöhen sollte, um zur Senkung des Weltölpreises beizutragen. Dies ist derzeit ein Schlüsselthema für Amerika, wo die steigende Inflation, einschließlich eines Anstiegs der Benzinpreise, die Stimmung in der Bevölkerung verschlechtert, gefolgt von sinkenden Umfragewerten für den Präsidenten und seine Partei im Vorfeld der Kongresswahlen im November. ... Letztlich basiert das Bündnis der USA mit den Saudis nicht auf einer Werte-, sondern nur auf einer Interessengemeinschaft. Aber wozu dann die ständigen Verlautbarungen zu den Menschenrechten?“
Biden will innenpolitische Probleme lösen
Benzinpreise sind für den US-Präsidenten gerade wichtiger als Menschenrechte, wirft Corriere del Ticino ein:
„Man hätte Scheuklappen auf, würde man nicht erkennen, dass der wahre Kern des Besuchs von Biden in Saudi-Arabien die Tatsache ist, dass das Land eines der wichtigsten Erdöl-Exporteure ist. ... Ein besonderes Problem für Biden ist der Anstieg der Benzinpreise, der in den USA ein so sensibles politisches Thema ist, dass die Republikaner seit Monaten eine harte Oppositionskampagne führen. Die einzige Möglichkeit, die Kraftstoffpreise zu senken, besteht in der Erhöhung der Rohöllieferung.“
Führungsrolle nicht aufgegeben
El País sieht viel Realpolitik:
„Die Auswirkungen des Krieges auf den globalen Energiemarkt erfordern einen politischen Realismus, der den Idealismus des demokratischen Präsidenten zunichte gemacht hat. ... Nach Trumps chaotischer Zeit und dem überstürzten Abzug aus Afghanistan widerlegt diese Reise Washingtons Abzugsstrategien in der Region. Diejenigen, die geglaubt haben, dass es im geopolitischen Kampf mit Peking nur um asiatische Allianzen zum Nachteil des Engagements in Europa und im Nahen Osten geht, haben sich getäuscht. ... Biden hat soeben seinen Willen bekundet, in dieser Region wieder die Führung zu übernehmen.“
Das Ende der amerikanischen Vormacht
Biden reist mit der verlorenen Hoffnung ab, die USA könnten im Nahen Osten wieder wie früher das Sagen haben, analysiert Der Standard:
„Eigentlich reicht es zu lesen, was die USA und Saudi-Arabien in ihrem gemeinsamen Statement zum Punkt Ukraine sagen - oder besser, nicht sagen: Es hat nicht einmal zu einem Aufruf zum Frieden gereicht. Die Saudis berücksichtigen den russischen Standpunkt mindestens so wie jenen Washingtons, und dabei wird es vorerst bleiben. Das amerikanische Zeitalter im Nahen Osten ist zu Ende.“
Westen muss sich besser abstimmen
Die Schaffung einer bipolaren Weltordnung liegt nicht im Interesse des Westens, mahnt die Frankfurter Rundschau:
„Wenn ... die USA und die europäischen Verbündeten nur bei bestimmten Themen wie dem Ukraine-Krieg ihre Kräfte bündeln können, dann sollten sie womöglich größere Ziele wie ein weltweites Bündnis demokratischer Staaten gegen autokratische Länder noch einmal überdenken. ... Es dürfte ... für die USA und die verbündeten Europäer strategisch und politisch sinnvoller sein, Konflikte zu benennen, ein gemeinsames Ziel zu definieren und dann mit den betroffenen Staaten wie Saudi-Arabien oder China zu verhandeln, statt zu versuchen, eine bipolare Welt zu schaffen, die die Herausforderungen dieses Jahrhunderts - allen voran den Klimaschutz - nicht bewältigen wird.“