Was ist dran am Ukraine-Bericht von Amnesty?
Amnesty International hält trotz heftiger Kritik weiter an den Ergebnissen einer Untersuchung zur Kriegsführung der ukrainischen Armee fest. Kyjiw wirft der Menschenrechtsorganisation Täter-Opfer-Umkehr vor. Die Leiterin der ukrainischen Sektion begründete ihren Rücktritt damit, dass Amnesty sich zum Werkzeug russischer Propaganda mache. Dieser Streit spiegelt sich auch in den Medien wider.
Russland macht sowieso keinen Unterschied
Erst der Angriff des Aggressors macht Städte zum Schlachtfeld, nicht deren Verteidigung, meint der Tages-Anzeiger:
„Die russische Kriegführung ist so brutal, dass sie ohnehin keinen Unterschied zwischen militärischen und zivilen Zielen macht, wie die Trümmerwüste von Mariupol belegt. Städte aber sind ein enormes Hindernis für Angreifer, Bastionen des Widerstandes. In der seltsamen Logik des Ukraine-Berichts müsste man auch der Roten Armee, als sie 1942 Stalingrad gegen die Wehrmacht verteidigte, völkerrechtswidriges Verhalten vorwerfen. Obwohl noch Zivilisten in der Trümmerstadt waren, kämpften die sowjetischen Soldaten um jedes Haus. Was hätten sie sonst tun sollen?“
Zum zweiten Mal in der Propagandafalle
Amnesty International spielt Russland in die Hände, klagt De Volkskrant:
„Amnesty hätte die politische Wirkung des Berichts vorhersehen können. Im vergangenen Jahr wurde die Organisation in Verlegenheit gebracht, nachdem sie dem russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny den Status als politischer Gefangener aberkannt hatte wegen diskriminierender Äußerungen, die er früher getan hatte - was dankbar von den russischen Behörden benutzt wurde, um das knallharte Vorgehen gegen ihn zu rechtfertigen. Dass Amnesty International jetzt zum zweiten Mal in die russische Propagandafalle tritt, wird dem Ruf der Organisation leider nicht gut tun.“
Der Unterschied liegt in der Dimension
Helsingin Sanomat ist nicht erstaunt über die Erkenntnisse aus dem Bericht:
„Ein Krieg, der Regeln befolgt, ist eine Illusion. Russland verstößt gegen die Regeln des Kriegs und laut Amnesty tut dies auch die ukrainische Armee. Aber es gibt einen deutlichen Unterschied in der Dimension. Russland führt einen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine; die Ukraine verteidigt hartnäckig ihre Existenz.“
Weitere Kooperation ist fraglich
Verslo žinios vertraut der Menschenrechtsorganisation nicht mehr:
„Dass Amnesty derart den Verstand verloren hat, lässt auch an anderen Recherchen dieser Organisation in anderen Ländern (auch in Litauen) zweifeln. Nämlich daran, ob diese objektiv und durch Tatsachen begründet sind. Und damit auch an dem Sinn einer weiteren Kooperation. Es geht doch um sehr sensible Untersuchungsbereiche, wo eine lupenreine Reputation des Forschers ein Muss ist. Nach dem skandalösen Bericht und dem Ignorieren der kritischen Hinweise von Juristen und anderen Experten und ohne den Rücktritt der Leiterin von Amnesty kann eine weitere Kooperation (der Regierungen und der Medien) zu negativen Eindrücken in der Öffentlichkeit führen. Solche 'Recherchen' und 'Berichte' gehören in den Müll.“
Unfreiwillige Stütze für Moskaus Propaganda
Nach ihrem Rücktritt als Chefin der ukrainischen Sektion von Amnesty erklärt Oxana Pokaltschuk auf Facebook, warum sie den Bericht ablehnt:
„Es geht nicht darum, dass Menschenrechtsorganisationen das Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte nicht dokumentieren sollten. … Aber solch wichtige Berichte müssen auch etwas über die andere Seite des Kriegs sagen und darüber, wer diesen begonnen hat. … Zwar haben sich Vertreter von Amnesty an das Verteidigungsministerium gewandt, man hatte diesem jedoch eine sehr kurze Frist für die Beantwortung eingeräumt. … Infolgedessen hat die Organisation, ohne es gewollt zu haben, Material veröffentlicht, das sich wie eine Unterstützung für das russische Narrativ anhört.“
Einseitig und verzerrend
Nowaja Gaseta Ewropa wirft der NGO Manipulation und Unprofessionalität vor:
„Die Menschenrechtsorganisation hat ein besonderes Neusprech ausgearbeitet: ein System zur Beschreibung des Kriegsgeschehens, das vollständig die Verbindung von Ursache und Wirkung verzerrt und es dem Leser nicht erlaubt, ein Gesamtbild des Geschehens zu bekommen. ... Würde ein solcher Bericht als Artikel bei irgendeiner sich selbst achtenden Redaktion eingereicht, der Redakteur würde ihn aus dem Fenster schmeißen und den Korrespondenten entlassen.“
Notwehr rechtfertigt nicht alles
Bestimmte Anforderungen an die Kriegsführung müssen auch für die Ukraine gelten, verteidigt Deník den Bericht von Amnesty:
„Sollte der Bericht in der Schublade verschwinden? Keinesfalls. Die russische Führung ist der Aggressor, die Ukraine das überfallene Land, das sich gegen stärkere Eindringlinge wehrt. Wenn sie dabei aber Recht verletzt und Menschen einer überflüssigen Gefahr aussetzt, ist das taktisch vielleicht verständlich, aber nicht zu entschuldigen. ... Der Westen und die Führung der Ukraine sollten den Bericht von Amnesty ernst nehmen und Konsequenzen ziehen. Niemand kann von der Ukraine verlangen, dass sie mit Samthandschuhen gegen brutale Eindringlinge kämpft. Sie darf aber nicht bewusst Zivilisten als Geiseln nehmen.“
Kyjiw reagiert auf Kritik stets reflexartig
Kyjiw hat das Papier verrissen, aber das ist die Standardantwort auf unbequeme Wahrheiten, meint der in Rumänien arbeitende und aus der Ukraine stammende Journalist Marin Gherman in Libertatea:
„Für den ukrainischen Staat bedeutet Kritik oft nicht, dass man anderer Meinung ist, sondern dass man Feind ist. … Emotionsgeladene und nicht argumentierte Reaktionen Kyjiws auf verschiedene Vorwürfe oder auch geringfügige Anmerkungen von außen gab es relativ viele in der Vergangenheit. Ein Beispiel sind die Berichte des Europarats: Sämtliche Resolutionen dieser internationalen Organisation, die die Novellierung des Bildungsgesetzes oder anderer Vorschriften in Sachen Minderheitenrechte nahelegten, wurden von Kyjiw scharf kritisiert oder einfach ignoriert.“
Rezeption nicht mitbedacht
Der Bericht spielt ungewollt Moskau in die Hände, kritisiert die taz:
„Dass Russland die Ukraine angreift und nicht umgekehrt, und dass die Gefahr für ukrainische Zivilisten dadurch entsteht, dass Russland auf zivile Ziele schießt – das fällt unter den Tisch. Vorhersehbar war das, weil im aufgeheizten Klima um den Krieg in der Ukraine für Differenzierung kein Platz ist. Eine erfahrene Menschenrechtsorganisation wie AI sollte das wissen. Sie müsste antizipieren können, wie die öffentliche Rezeption ihrer Berichte ausfällt. Und sie müsste in der Lage sein, ihre Erkenntnisse so zu publizieren, dass sie nicht in Moskau eine Täter-Opfer-Umkehr ermöglichen und damit in Kiew Empörung provozieren.“
Jetzt bitte keine Verschwörungstheorien
Auch wenn der Bericht den Verteidigungskampf Kyjiws kritisiert, steht Amnesty International nicht auf Putins Seite, wirft Il Manifesto ein:
„Der ukrainische Widerstand ist kein heiliger und makelloser Kampf, wie er seit Monaten von den meisten Vertretern der internationalen Gemeinschaft dargestellt wird. ... Ein Henkersbeil für das Kyjiwer Narrativ, das die russischen Generäle immer als berechnende Sadisten dargestellt hat, die öffentliche Gebäude nur angreifen, um Panik unter der Zivilbevölkerung zu säen und so viele Opfer wie möglich zu fordern. ... Es wäre töricht, Amnesty als pro-russisch oder, wie Verschwörungstheoretiker verschiedener Couleur zu sagen pflegen, als 'den starken Mächten untertan' zu bezeichnen, auch wenn dies nicht wenige versuchen werden.“