Erdoğan und Putin - ein gutes Team?
Zum zweiten Mal seit Beginn des Ukraine-Kriegs haben sich Putin und Erdoğan getroffen. Im russischen Sotschi befürworteten die beiden Staatschefs engere Handelsbeziehungen - auch wenn sich ihre Positionen bei den Themen Syrien, Ukraine und Berg-Karabach zum Teil diametral widersprechen. Die Presse analysiert das Bestreben der Türkei, eine Schlüsselrolle spielen zu wollen.
Türkei macht sich unentbehrlich
Der türkische Präsident laviert geschickt zwischen den Blöcken, meint die Kleine Zeitung:
„Jetzt wendet sich Erdogan an Russland, das die Türkei gerne nutzen würde, um westliche Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges zu umgehen. … Westliche Regierungen befürchten, die Türkei könnte zum Blockadebrecher der Russland-Sanktionen werden. Der türkische Präsident setzt darauf, dass er keine ernsthaften Gegenmaßnahmen aus Europa und den USA befürchten muss, weil sein Land zu wichtig für den Westen ist. Damit könnte er recht haben. Die Türkei hat mit dem Istanbuler Getreide-Abkommen gezeigt, wie zentral ihre Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt ist.“
Bilaterale Beziehungen nicht vernachlässigen
Europa und die USA unterschätzen die Kollateralschäden der westlichen Sanktionspolitik, warnt das Handelsblatt:
„Nicht nur die Türkei, auch Länder wie China, Indien, Saudi-Arabien oder Brasilien wollen nicht mit Russland brechen. Sie sehen die westliche Sanktionspolitik und deren Nebenwirkungen weit über Russland hinaus mit großer Skepsis. So führt der Ukrainekrieg am Ende zu einem globalen Wettbewerb von politischer Soft Power, also dem diplomatischen Einfluss eines Staates auf einen anderen Staat. ... Putin und Erdogan jedenfalls wissen um die geopolitische Bedeutung ihrer bilateralen Beziehungen. Sie werden das zu nutzen wissen.“
Ankara neue Kooperation anbieten
Der Westen tut gut daran, die Schlüsselposition Ankaras zu würdigen, meint die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah:
„Die Türkei hat verschiedene Versuche unternommen, ihre Beziehungen mit den USA und der EU zu vertiefen. Die Antwort auf diese Versuche sollte nicht sein, die Türkei im Bezug auf Syrien im Stich zu lassen oder die griechischen Maximalforderungen bezüglich des östlichen Mittelmeers und der Ägäis zu unterstützen. ... Die aktuelle internationale Lage macht es notwendig, dass die Türkei eine Ausnahmepolitik gegenüber Russland verfolgt. Die westlichen Regierungen müssen alle Elemente dieser Balance berücksichtigen und sich Ankara mit neuen Vorschlägen für Kooperation, Investition und Integration nähern.“
Mehr Zweckgemeinschaft als Liebe
Putin hat zwar erklärt, dass die beiden Länder in Zukunft engere Beziehungen pflegen wollen, doch das ist reiner Pragmatismus, kommentiert Habertürk:
„Die Reihe von Äußerungen Putins gegenüber Erdoğan, angefangen bei der Erdgasversorgung Europas bis hin zur Getreide-Lieferung, deuten auf den Beginn einer neuen Ära in den Beziehungen zwischen beiden Ländern hin. ... Putin will einerseits die Klammer der Sanktionen lösen, andererseits betrachtet er die Türkei als ein Fenster zum Westen, mit dem er intern das Gleichgewicht wahren kann. Aber während er das tut, lässt er es nicht bleiben, der Türkei hintenrum zu drohen, wie er das auch schon mit dem Kernkraftwerk Akkuyu getan hat.“
Ohne Ankara läuft nichts
Die Türkei spielt zur Zeit am Verhandlungstisch eine zentrale Rolle, glaubt Público:
„Auf diese Weise stärkt sie ihre diplomatische Bedeutung in einem Trapez, das ihr ermöglicht, Sanktionen gegen Moskau zu vermeiden und Drohnen an Kyjiw zu verkaufen. Und sie nutzt ihre geografische Lage, die es ihr erlaubt, das Montreux-Abkommen zu aktivieren und die Dardanellen und den Bosporus zu kontrollieren, um einen geopolitischen Sieg zu erringen. ... Der Erfolg des Getreidetransports fiel zusammen mit Äußerungen Putins über die Unmöglichkeit eines Siegs im Fall eines Atomkriegs und jenen Gerhard Schröders nach einem Treffen mit dem russischen Präsidenten, wonach der Erfolg des Getreideabkommens 'langsam zu einem Waffenstillstand ausgebaut werden kann'. ... Fazit: Ohne Erdoğan gibt es im Moment keine Verhandlungen.“
Der türkische Präsident überhebt sich
Die Vermittlerrolle zwischen den Fronten dürfte für die Türkei nicht lange funktionieren, glaubt die Süddeutsche Zeitung:
„[Erdoğan] unterhält gute Beziehungen zu Kyjiw und zu Moskau, macht sich unabkömmlich. Man kann diese irritierende Schaukelpolitik als raffinierten Versuch eigenständigen Handelns einer Regionalmacht respektieren, die eben zwischen den Fronten verortet ist: Die Türkei muss mit Russland und mit dem Westen leben. ... So ist es nur auf den ersten Blick. Die Regionalmacht Türkei ist weder militärisch noch politisch noch wirtschaftlich eine global agierende Macht. Die USA, die EU und die Nato werden erneut die Frage nach der Zuverlässigkeit Ankaras stellen. Die Frage ist nicht, ob Erdoğan sich überhebt, sondern wann.“