Gorbatschow: Für wen war er Held, für wen Antiheld?
Nach dem Tod von Michail Gorbatschow ist eine heftige Debatte über dessen historisches Vermächtnis entbrannt. Staatliche russische Medien werfen dem Verstorbenen vor, für den Niedergang der Sowjetunion verantwortlich gewesen zu sein. Andere Kommentatoren bedauern, dass die vom Friedensnobelpreisträger initiierten Chancen ungenutzt blieben.
Russland wird ihn noch schätzen lernen
Népszava meint:
„Nicht nur wir waren die Nutznießer der fairen Politik [Gorbatschows], sondern auch die Russen, die in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten zum ersten Mal in ihrer Geschichte frei reden und fühlen durften. Jahrhundertelang wurde ihnen vorgaukelt, dass sie vor der Außenwelt Angst haben sollten. Endlich konnten sie selbst sehen, wie Europa eigentlich ist, wo sie heimlich immer hinwollten. Doch als Gorbatschow 1996 bei einer freien Präsidentenwahl kandidierte, bekam er nur ein halbes Prozent der Stimmen. Die Nachwelt wird dankbarer sein.“
Diplomatischer Zwickmühle entronnen
Weil es kein Staatsbegräbnis für Gorbatschow gibt, bleibt westlichen Politikern die Entscheidung erspart, sich in Russland zu zeigen oder nicht, analysiert Irish Examiner:
„Hier gab es Potenzial für sehr starke Symbolik - nicht nur bei der Frage der Sitzordnung. Westliche politische Führer hätten einfach nicht an einem von Putin choreografierten Spektakel teilnehmen können. Wenn sie das getan hätten, wären sie Gefahr gelaufen, dabei als Unterstützer von Putins Regime positioniert zu werden. Wenn sie eine formelle Einladung ablehnen müssten - was zwingend notwendig wäre -, könnte man ihnen vorwerfen, Gorbatschows Andenken und damit auch Russland selbst zu beleidigen. So gibt es eine Komplikation weniger in einer sehr schwierigen Zeit.“
Kaum jemand wird zum Begräbnis anreisen
Der Schriftsteller Vasile Ernu trauert in Libertatea einer glanzvollen Zeit hinterher:
„Mit Sicherheit ist die 'Perestroika-Ära' die letzte globale Epoche 'alter politischer Titanen' - die Politik war von historischem Kaliber, sie war von Hoffnung und Sinn getragen, von Humanismus und menschlicher Solidarität. Aber sie wurde besiegt - und jetzt kommt die Revanche. Jetzt befinden wir uns in der Ära 'politischer Zwerge', voller Ressentiments, revanchistisch, dumm, unfähig, zynisch, egoistisch und kleinlich. … Herrschte nicht Krieg, wären alle Anführer der Welt zu Gorbatschows Begräbnis angereist. Jetzt wissen wir nicht einmal, ob der aktuelle Kreml-Chef kommen wird. Wahrlich, eine Ära ist endgültig vorbei.“
Er hat nur dem Westen genutzt
Russlands staatliche Agentur Ria Nowosti lässt kein gutes Haar an Gorbatschow:
„Er wollte den Zerfall unseres Landes nicht, aber niemand hat dem Land so viel Leid zugefügt wie dieser ungeschickte und unkluge Reformator. Die Folgen seiner katastrophalen Herrschaft löffeln wir bis heute aus und wir werden sie noch lange korrigieren müssen, zumindest die, die überhaupt korrigierbar sind. Doch der Westen hat von Gorbatschows Wirken profitiert, wenn auch nur für eine kurze historische Periode. Und jetzt nutzt der Westen noch Gorbatschows Tod als Anlass für einen Kampf um Russlands Zukunft. ... Der Westen setzt auf eine neue Perestroika - dass Russland wieder Teil der 'zivilisierten Welt' werden möchte und sich und seine Außenpolitik ändert.“
Aus der Wohngemeinschaft wurde nichts
Warum der Blick auf den letzten Staatschef der UdSSR im heutigen Russland und in den westlichen Ländern so gegensätzlich ist, erklärt Kolumnist Pierre Haski auf France Inter:
„Michail Gorbatschow hat sehr früh beschlossen, den früheren Sowjetblock sich emanzipieren zu lassen. Er hatte ein Vorhaben: das des 'gemeinsamen europäischen Hauses', welches das Blockdenken überwinden sollte. Der Westen wollte davon nichts wissen, denn er war zu glücklich über das Ende des Kalten Kriegs und anschließend der UdSSR. Dieses Missverständnis oder den schlechten Tausch von 1991 werfen seine russischen Gegner Gorbatschow heute noch vor. Daher wird der Name Gorbatschow im Westen verehrt und in Russland verhöhnt. Sein Tod mitten im Ukraine-Krieg ist das letzte Symbol dafür.“
Rolle von Einzelpersonen wird überbewertet
Politologe Karmo Tüür fragt sich in Eesti Päevaleht, wie sehr Gorbatschow eigentlich die Zügel in der Hand hatte:
„Michail Gorbatschow wurde während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die einen zum Symbol der Freiheit, für die anderen zum Symbol des Untergangs. Viele historische Prozesse werden reif, lange bevor ein Mensch die Führung übernimmt, der dann nachher zur Ikone wird. Die Sowjetunion in ihrer schreienden Ineffizienz befand sich schon lange in einer Spirale der Stagnation und des Untergangs. Die Freiheitsventile von Gorbatschow sollten die Maschine ölen, aber haben stattdessen Blut rausgelassen. Ist die Sowjetunion wirklich wegen Gorbatschow zusammengebrochen oder lediglich während dessen Amtszeit?“
Das giftige Erbe seiner Vorgänger wirkt weiter
Die Wurzeln vieler Übel im heutigen Russland stammen aus der Zeit vor Gorbatschows Amtsführung, analysiert The Irish Times:
„Gorbatschow wird für alles verantwortlich gemacht, das nach ihm kam: Mangel, wirtschaftliches Chaos, der Aufstieg der Kleptokratie, die jetzt Russland regiert, die Remilitarisierung und das Wiederaufleben eines schikanösen großrussischen Nationalismus. ... Doch all das war in Wahrheit das giftige Erbe von Gorbatschows Vorgängern. Dieses war so tief in der russischen Gesellschaft verankert, dass selbst seine Revolution es nicht abschütteln konnte. ... Die großen Projekte Perestroika und Glasnost, Wiederaufbau und Öffnung, sollten dem Land Chancen zur Veränderung bieten, die es bitter nötig hatte. Chancen, die letztlich nicht genutzt wurden.“
Er wollte das Unmögliche
Gorbatschows grundlegende Reformen der Sowjetunion mussten zwangsläufig zu deren Ende führen, obwohl er das nicht wollte, analysiert BBC:
„Wie sah Gorbatschow selbst sein Vermächtnis? Es sei richtig gewesen, das totalitäre System und den Kalten Krieg zu beenden und Atomwaffen abzubauen, erklärte er. Doch er klagte auch über den Putsch 1991 und das Ende der Sowjetunion. Dass diese zusammenbrach, kreiden ihm immer noch viele Russen an. Obwohl Michail Gorbatschow ein pragmatischer und rationaler Politiker war, erkannte er nicht, dass es unmöglich war, seine Reformen durchzusetzen, ohne ein zentralisiertes kommunistisches System zu zerstören, das Millionen in der UdSSR und darüber hinaus nicht mehr wollten.“
Entscheidend war, was er nicht getan hat
Für Denik N endet mit dem Tod von Michail Gorbatschow gewissermaßen das 20. Jahrhundert:
„Dessen achtes Jahrzehnt hat er zusammen mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher, François Mitterrand und Helmut Kohl grundlegend geprägt. ... Aus Prager Sicht darf nie vergessen werden, dass er uns grundlegend durch das beeinflusst hat, was er nicht getan hat, obwohl er es hätte tun können. Als er beschloss, dass die UdSSR das Machtmonopol der tschechoslowakischen Kommunisten nicht länger unterstützen würde, erhielten wir erneut die Chance, unseren eigenen Weg zu gehen.“
Mann des Friedens stirbt in Kriegszeiten
Für Gorbatschow muss Putins Krieg ein Albtraum gewesen sein, glaubt La Stampa:
„Es hat etwas Symbolisches, dass Michail Gorbatschow gerade zu dem Zeitpunkt stirbt, in dem das Russland, das aus dem Sowjetimperium hervorging, das er friedlich zu retten versucht hatte, in Blut und Schande versinkt. ... Für ihn, wie auch für Wladimir Putin, war das Ende der Sowjetunion die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Aber im Gegensatz zum derzeitigen russischen Staatschef hatte der erste und letzte sowjetische Präsident den Frieden als Priorität seiner politischen und menschlichen Mission gewählt. Und es hätte wohl keine schlimmere Strafe für ihn geben können, als in dem Wissen zu sterben, dass sein Land die Ukraine bombardiert, das Land, aus dem seine Mutter stammte.“
Pragmatiker mit zu großen Aufgaben
Die aktuellen Entwicklungen darf man Gorbatschow nicht anlasten, meint Russland-Expertin Laura Starink in NRC Handelsblad:
„Er war eher ein pragmatischer Macher, der verstand, dass der Kommunismus seinem Land vor allem großes Elend gebracht hatte. ... Aber die Modernisierung seines Landes nach einem Jahrhundert Unterdrückung erwies sich als gigantische Aufgabe. Und die Umformung einer Staatswirtschaft zum freien Markt war auch für ihn eine Nummer zu groß. Was als Reform eines Systems begann, endete mit der Auflösung einer Weltmacht und der Implosion eines kolonialen Imperiums. Dass der von Jelzin zum Thronfolger gesalbte Putin sich damit nicht abfinden konnte und nun versucht, mit einem brutalen Krieg die Uhr zurückzudrehen, kann man Gorbatschow nicht anlasten.“