Energiekrise: Wem schaden die Sanktionen wirklich?
Russlands Präsident Putin hat die westlichen Sanktionen als gescheitert und als "Bedrohung für die ganze Welt" bezeichnet. Kurz zuvor hatte der Kreml die aktuelle Energiekrise zusätzlich befeuert, indem er die Gaslieferungen über Nord Stream 1 komplett gestoppt hatte, weil G7 und EU einen Preisdeckel auf russische Energieimporte planen. Kommentatoren warnen davor, der Moskauer Erzählung Glauben zu schenken.
Russland muss zum Frieden gezwungen werden
Die Sanktionen sind nur für Putin eine Bedrohung, betont Der Standard:
„Ohne Halbleiter aus dem Westen und aus Taiwan lassen sich moderne Raketen, Panzer oder Zieleinrichtungen nur schwer nachliefern. … Für die EU-Staaten und ihre Bürger gute Nachrichten: Geschwächte russische Kampfkraft bedeutet weniger Tote in der Ukraine. Das war und ist der Sinn der EU-Zwangsmaßnahmen. ... Auf Social Media verbreitet sich immer mehr die Mär, Europa führe Krieg gegen Russland. ... Nichts ist falscher als diese Verdrehung. Europa will keinen Krieg, nicht wirtschaftlich und schon gar nicht militärisch. Wir wollen Frieden. Putin könnte den Krieg sofort beenden. Aber er will nicht. Er muss dazu gezwungen werden.“
Zunehmend auf minderwertige Waffen angewiesen
Die russische Armee leidet stark unter dem Mangel an Elektrochips für ihre Waffensysteme, merkt News.bg an:
„Das größte Problem für die Russen ist nicht der Preis dieser Chips, sondern die Tatsache, dass ihre Hersteller meist US-amerikanische Unternehmen sind. ... Aus diesem Grund sieht sich Moskau zu zweierlei Maßnahmen gezwungen: Erstens muss es im Kampf immer mehr alte sowjetische Munition einsetzen, deren Eignung und Funktionsfähigkeit umstritten und riskant ist. Zweitens muss es Waffen und Munition aus anderen Ländern importieren - etwa Drohnen aus dem Iran und Artilleriegeschosse aus Nordkorea. Wie zuverlässig diese sind, ist jedoch fraglich.“
Ungebrochener Größenwahn
Der russische Präsident reagiert wie ein trotziges Kind, schreibt die Moskau-Korrespondentin Inna Hartwich in der taz:
„Er droht, sucht erneut Schuldige, gibt den Gestärkten und bleibt doch nur ein Realitätsverweigerer. Dass Pipelines nicht von heute auf morgen umgeleitet werden können, dass auch 'neue Freunde' harte Verhandlungspartner sind, dass Reden von 'Eifersucht des Westens' und 'gebrochener Hegemonie der USA' keine Hochtechnologie-Produkte bringen und eingebrochene Branchenzweige wieder zum Leben erwecken, übergeht er. 'Wir verlieren nichts', sagt er fast schon beschwörend und zeigt: Kein Preis ist ihm in seinen Großmachtphantasien zu hoch.“
Putin kann den Gaskrieg gewinnen
Aftonbladet befürchtet, dass in Europa der Rückhalt für die Sanktionen schwindet, und schaut unter anderem nach Italien:
„Genau wie Schweden steuert Italien auf Wahlen zu. Wenn die Meinungsumfragen stimmen, heißt die Gewinnerin am 25. September Giorgia Meloni. Wie ein Großteil der italienischen Rechten hat ihre Partei, die Brüder Italiens, sehr gute Beziehungen zu Moskau. Was eine rechte Regierung in Italien für die Einigungschancen der EU in der Ukraine-Politik bedeuten würde, ist unschwer nachzuvollziehen. 'Ein Kriegswinter', sagte [Premierministerin] Magdalena Andersson, als sie am vergangenen Samstag dem Energiemarkt die Garantien vorstellte. Die Frage ist, sind die Menschen in Europa dafür bereit?“
Strategie wird sich auszahlen
The Times ruft dazu auf, über die aktuellen Schwierigkeiten hinwegzusehen:
„Sanktionen haben die Energieknappheit im Westen verschärft, was wiederum die Großhandelspreise in die Höhe getrieben hat, wovon Öl- und Gasexporteure profitieren. Aber das ist nur eine Übergangsphase, in der sich der Westen von russischen Lieferungen unabhängig macht. ... Westliche Haushalte leiden unter dem enormen Druck auf die Lebenshaltungskosten, aber die Abhängigkeit von russischer Energie zu reduzieren und letztlich zu beseitigen, ist gut für die Wirtschaft und die Weltordnungspolitik. Westliche Sanktionen sind eine langfristige Strategie, um der Ukraine zu helfen, und sie wirken.“
Mehr Schaden für Europa als für Russland
La Vanguardia zweifelt ernsthaft am Sinn der Sanktionen:
„Es ist klar, dass die kriegerische Einstellung der EU gegenüber Russland am Ende ein Bumerang ist, der den europäischen Bürgern mehr schadet als den russischen. Zum Beispiel bei der Ankündigung der G7 am vergangenen Freitag, eine Obergrenze für den russischen Ölpreis festzulegen. ... Es vergingen nicht einmal zwei Stunden bis zur russischen Reaktion, die Gaslieferungen nach Europa über Nord Stream auszusetzen. ... Der Schaden ist weitaus größer als jener der gegen Russland verhängten Sanktionen. ... Der Krieg in der Ukraine mag für Russland nicht so gut laufen, wie Putin erwartet hat - der Wirtschaftskrieg schadet Europa umso mehr: Uns erwartet ein höllischer Winter.“
Nicht locker lassen!
Politikwissenschaftlerin Nathalie Tocci widerspricht in La Stampa vehement:
„Es ist es falsch, zu behaupten, die Energiekrise sei auf die Sanktionen zurückzuführen. ... Man kann höchstens von einer Energiekrise sprechen, die durch die Vergeltungsmaßnahmen des Kremls verursacht wurde, der am Montag die Maske fallen ließ, indem er zugab, dass die Nord-Stream-Pipeline nicht mehr geöffnet wird, solange die westlichen Sanktionen in Kraft sind. Diejenigen, die die Aufhebung der Beschränkungen befürworten, sollten daher sagen: Es ist gerechtfertigt, der Erpressung Moskaus nachzugeben, Kyjiw im Stich zu lassen und das Band bis zum 23. Februar vor der Invasion zurückzuspulen. ... Die russischen Vergeltungsmaßnahmen sind genau deshalb erfolgt, weil die Sanktionen weh tun - und wie sie weh tun.“
Leere Regale lassen Rückhalt für Putin schwinden
Die Mangellage könnte die russische Bevölkerung dazu bringen, gegen Putin aufzubegehren, erinnert Jornal de Notícias:
„Dies ist ein Armdrücken, das Putin nicht gewinnen darf, ganz gleich, wie viel Schaden er den Europäern zufügt. Denn in Moskau kehrt die Sowjetära zurück, nicht nur durch Putins Expansionsbestrebungen, sondern auch durch den Zusammenbruch der Wirtschaft: In den Regalen der Supermärkte gehen die Lebensmittel aus oder es fehlt an Rohstoffen für die Herstellung einer einfachen Hose. Die Russen, die sich in den letzten 30 Jahren an einen Lebensstil des Überflusses und des Konsums gewöhnt haben, sind vielleicht nicht bereit, sich im Namen des Mutterlandes zu beschneiden.“
Korrupte Wirtschaft ist nicht kriegstauglich
Der Wirtschaftsprofessor Konstantin Sonin vertritt in einem Facebook-Kommentar zu einem seiner Artikel die These, dass Russland auf die Sanktionen und den unbefriedigenden Kriegsverlauf hin dennoch keine Kriegswirtschaft einführen kann:
„Putin kann die russische Wirtschaft nicht auf 'Kriegsschienen' umspuren. Das heißt nicht, dass er das nicht tun wird (denn vielleicht tut er es), aber er kann es nicht. Denn alle putinschen Minister, besonders die mit Zuständigkeit für einzelne Branchen, sind es gewohnt, auf ihren Posten zu Multimillionären zu werden. Bei Putin wird alles, was gebaut wird, unter irrwitziger Korruption und Bereicherung aller Beteiligten errichtet. Dies zu ändern, wäre für Putin Selbstmord.“