Russlands Atomdrohung: Bluff oder Ernst?
Will Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine wirklich Atomwaffen einsetzen? Diese Frage beschäftigt derzeit nicht nur Europa. Videoaufnahmen, die seit kurzem in den sozialen Medien kursieren, zeigen einen Zug der Nuklearwaffenabteilung der russischen Armee auf dem Weg in die Ukraine. Dieser könnte laut Experten aber auch nur Material liefern. Kommentatoren bewerten die Drohkulisse unterschiedlich.
Gefährlich in die Ecke gedrängt
Ein Atomschlag wird immer wahrscheinlicher, fürchtet Irish Independent:
„Putin braucht einen Ausweg aus dem Schlamassel, das er unnötigerweise geschaffen hat, aber es zeichnet sich keiner ab. Der zunehmend irrationale russische Diktator erzählt gern die Geschichte, wie er als Kind in den Ruinen St. Petersburgs, damals noch Leningrad, eine Ratte in die Enge trieb und dann von ihr angegriffen wurde. Das Besorgniserregende ist, dass sich Putin gern mit der Ratte vergleicht. Es hat viele Forderungen nach einem Regimewechsel in Russland gegeben, aber auch das wäre womöglich nicht die Lösung. Schließlich richtet sich die größte Kritik seiner eigenen Politiker und Generäle nicht darauf, dass er in die Ukraine einmarschiert ist, sondern darauf, dass er nicht mit genügend Härte vorgeht.“
Hunde, die bellen, beißen nicht
Putin ist es durchaus recht, wenn der Westen ihn für irrational hält, analysiert Eesti Päevaleht:
„Putins Kalkül ist, dass die Angst der westlichen Öffentlichkeit vor Atomwaffen groß genug ist, um ihm einen Ausweg anzubieten. ... Jedoch werden [deren Auswirkungen] übertrieben. Der Einsatz einer kleinen taktischen Atomwaffe würde an der Front höchstens eine zwei Kilometer breite Lücke reißen. Daher brächte sie keinen entscheidenden Erfolg auf dem Schlachtfeld, wohl aber eine größere öffentliche Unterstützung für resolutere Schritte gegen Russland. Selbst China hat davor gewarnt, dass der Einsatz der Bombe die rote Linie überschreite und Russland die stillschweigende Unterstützung von Beijing kosten würde.“
Putin könnte Verhandlungen erzwingen
Der Kremlchef sieht einen Nuklearschlag gegen die Ukraine möglicherweise als Notfallstrategie, heißt es bei Contributors:
„Um dann eine Wiederholung eines nuklearen Angriffs zu vermeiden, wird sich die Ukraine in Putins Vorstellung gezwungen sehen, an den Verhandlungstisch zu sitzen, was zur Anerkennung der im September annektierten Regionen führen soll. Zugleich könnte Russland überzeugt sein, dass der Westen in einem Fall eines Nuklearangriffs die Ukraine nicht verteidigen wird, weil sie nicht Teil des kollektiven Nato-Schutzschildes ist und um gegenseitige Atomangriffe zu vermeiden. Dieses Szenario ist möglich, wenn Putin die reale Gefahr eines Machtverlustes spürt. Das Überleben seines eigenen Regimes ist für ihn wichtiger als ein Sieg gegen die Ukraine.“
Unterstützung für Ukraine fortsetzen
Der Westen sollte die Nerven behalten, beschwichtigt Iltalehti:
„Der Kreml muss sorgfältig abwägen, ob Russland in den Augen der internationalen Gemeinschaft und insbesondere Chinas ein Verbrecherstaat sein will, der eine Atomwaffe einsetzt, um seinen gescheiterten Eroberungskrieg fortzusetzen. … Auch die USA haben Putin bereits deutlich zu verstehen gegeben, wie hoch der Preis wäre, wenn er zu Atomwaffen greifen würde. … In einer durch Krieg und Ungewissheit geprägten Zeit haben die westlichen Staaten keine andere Wahl, als einen kühlen Kopf zu bewahren und ihre Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen. Man darf nicht in Putins Angstfalle tappen.“
Ungewissheit aushalten
Trotz der Möglichkeit einer nuklearen Eskalation muss der Westen Putin die Stirn bieten, meint auch die Boulevardzeitung Blick:
„Noch nie seit der Kuba-Krise 1962 stand die Welt so nah an einer nuklearen Eskalation wie heute. Noch schlimmer: Noch nie in der Weltgeschichte hat ein so brutales System wie Putins Russland auf so glaubwürdige Weise mit so perfiden Waffen gedroht. Die Drohung ist ernst. In der Ukraine sind sich die Beobachter und Expertinnen einig: Putin ist absolut in der Lage, das bis vor kurzem noch Unwahrscheinliche zu tun. ... Die Ungewissheit über die russische Reaktion müssen wir aushalten. Wenn wir Putin jetzt die Hand reichen, dann haben wir bereits verloren.“
Wir stehen kurz vor der Katastrophe
Dass zur Zeit kaum ein Politiker Vorschläge zu Friedensverhandlungen macht, kann dramatische Folgen für die ganze Welt haben, befürchtet Avvenire:
„Es ist verständlich, dass Länder, die sich im Krieg befinden, den Kopf verlieren. ... Aber die anderen? Europa, die USA? Glauben wir wirklich, dass es ausreicht, zu wiederholen, dass Wladimir Putin an allem schuld ist und dass alles zu Ende ist, wenn er die Macht abgibt und Russland besiegt ist? Was, wenn das nicht der Fall ist? Was, wenn es erst nach vielen Jahren Krieg geschieht, mit sozialen Spannungen in einem verarmten Europa und ganzen Erdteilen in Aufruhr wegen Lebensmittelknappheit? ... Oder nach einem Atomkonflikt, der mehrere europäische Städte und ihre Bewohner vom Erdboden verschwinden lassen würde?“
Putin will auch Kyjiws Verbündete treffen
Die Erfolge der Ukraine im Osten und Süden können unberechenbare Reaktionen von Wladimir Putin herauslocken, fürchtet Trouw:
„Was Putins nächster Schritt sein wird, ist zu diesem Zeitpunkt völlig undeutlich. Sein Handeln scheint nicht immer rational zu sein, jedenfalls nicht aus der Perspektive der Länder, die die Ukraine unterstützen. ... Putins heftige anti-westliche Rhetorik in seiner Annektierungs-Rede der vergangenen Woche deutet daraufhin, dass er in jedem Fall auch die Länder treffen will, die die Ukraine unterstützen, und zwar an Stellen, an denen sie es nicht erwarten. Darauf sollten sich auch die Niederlande besser sehr gut vorbereiten.“
Mehr als Propaganda und Rhetorik ist nicht
Putin hat auf ganzer Linie versagt, findet El País:
„Wladimir Putins Siege sind nur propagandistischer Natur. Seine Erfolge sind furchtbar und blutig, denn sie bestehen darin, militärische Niederlagen zu rächen, indem er wehrlose Zivilisten bombardiert. ... Oder rhetorisch, wie die trübsinnige Feier der Annexion von vier ukrainischen Provinzen in Moskau, während gleichzeitig seine Truppen in Lyman vor dem ukrainischen Feind flüchteten. Der russische Präsident ist ein Meister der Drohung und Einschüchterung. Als Oberbefehlshaber einer zunehmend in Verruf geratenen Armee hat er bisher wenig Geschick bewiesen und bei der internationalen Bewältigung des Konflikts politisch und diplomatisch versagt.“