Was will Erdoğan in Syrien und im Irak?
Nach Luftangriffen auf die kurdische PKK und YPG in Syrien und dem Irak erwägt die Türkei nun auch den Einsatz von Bodentruppen. Ankara rechtfertigt den Beschuss als Reaktion auf den Anschlag in der Istanbuler Einkaufsstraße İstiklal. Beide Kurdenmilizen haben aber zurückgewiesen, die Drahtzieher zu sein. Für viele Medien liegen die Gründe für die türkischen Bombardements ohnehin woanders.
Schritt für Schritt die Türkei vergrößern
Der Historiker Pierros Tzanetakos schreibt in Protagon:
„Das von der Türkei besetzte Gebiet soll sich nach Ankaras Plänen mindestens 30 Kilometer hinter die Grenze ausdehnen. Wenn das gelingt, wird Erdoğan viele Gründe zum Feiern haben. Vor allem wird dieses Gebiet de facto als türkisches Territorium betrachtet werden. ... Und später, wenn die Wahlen und der Oktober 2023 [100. Geburtstag der türkischen Republik] näher rücken, ist es sehr wahrscheinlich, dass es de jure türkisches Gebiet wird. So wird Erdoğans wichtigste Wahlkampfansage, er werde die Türkei 'groß machen', Wirklichkeit. Indes ist keine Großmacht bereit, sich in dieser Frage mit der Türkei anzulegen. ... Wenn die Türken den Vertrag von Lausanne [der 1923 die Grenzen der modernen Türkei festlegte] an der syrischen Grenze brechen können, warum sollten sie nicht glauben, das auch mit Griechenland tun zu können?“
Nato-Erweiterungsfrage bremst US-Reaktion
Die Türkei kann sich das derzeit leisten, bedauert HuffPost Greece:
„Die USA lehnen türkische Invasionen in der Regel ab, weil sie gegen die kurdische YPG gerichtet sind und die Kurden ihre Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat sind. Diesmal sind die Dinge jedoch etwas anders. Noch vor kurzem hat sich die Türkei der nordischen Nato-Erweiterung widersetzt. ... Anlässlich des Attentats in Istanbul nutzte Ankara auch die Karte des Terrorismus hervorragend, um in Syrien einzumarschieren. Und so will Washington der Türkei im Moment keinen Vorwand liefern, den Nato-Beitritt Schweden und Finnlands zum Scheitern zu bringen. ... Die Türkei spielt die involvierten Staaten in der Syrien-Frage untereinander aus und macht die Kurden erneut zu Opfern.“
Helsinki sind die Hände gebunden
Für Finnland ist es schwierig, die Angriffe auf die Kurdenmiliz YPG zu verurteilen, konstatiert entsprechend Ilta-Sanomat:
„Das im vergangenen Sommer von Finnland und Schweden gemeinsam mit der Türkei unterzeichnete Memorandum unterscheidet nicht zwischen der PKK, die als terroristische Organisation eingestuft wird, und der Kurdenmiliz YPG, die die kurdischen Gebiete in Syrien verteidigt. Dem Memorandum zufolge sollten beide Länder die Türkei in ihrem Kampf gegen diese Organisationen unterstützen oder zumindest Verständnis dafür aufbringen. … Dies bringt Finnlands außenpolitische Führung in eine schwierige Lage.“
Bodenoffensive jetzt!
Cumhuriyet unterstützt die Militäroperation der Türkei mit der Luftwaffe in Syrien als Antwort auf den Terroranschlag in Istanbul, wundert sich aber, warum noch keine Bodenoffensive gefolgt ist:
„Sollten die Vorbereitungen immer noch nicht abgeschlossen sein, wäre das für die Landstreitkräfte nicht akzeptabel. Die Kosten und die Verluste bei einer künftigen Bodenoffensive könnten höher sein, als sie direkt nach den Luftangriffen gewesen wären. Es gibt noch einen Faktor, der den Erfolg der Operation gefährden könnte: Militärische Ziele wie die Städte Tel Rifat und Manbidsch wurden im Voraus angekündigt. Dies ist ein unvermeidlicher Risikofaktor für die Sicherheit der Operation.“
Fehlgeleiteter Neo-Osmanismus
Cyprus Mail wettert:
„Erdoğan, [Vizepräsident] Fuat Oktay und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, um nur die schlimmsten Übeltäter zu nennen, repräsentieren eine Türkei, die verblendet, zutiefst antigriechisch, antisemitisch, antieuropäisch und generell antiwestlich ist. Ein jammernder Unruhestifter, der fast alles leugnet, was mit ihm nicht in Ordnung ist. ... Ganz zu schweigen von der jüngsten Invasion in Syrien unter dem Deckmantel einer weiteren 'Friedensmission' und der destabilisierenden Rolle in Libyen und im Mittelmeerraum. ... Man kann Erdoğan nur als größenwahnsinnigen Tyrannen bezeichnen, dessen fehlgeleiteter Neo-Osmanismus eine existenzielle Bedrohung für alle Länder der Region darstellt. Sein jüngstes Kuscheln mit Diktator Putin ist ein Weckruf für uns alle.“
Terrorismus ist nicht der wahre Grund
Für Corriere della Sera sind Erdoğans Ziele bekannt:
„Er will die Präsenz der PKK entlang der südöstlichen Grenze zu Syrien und dem Irak beenden, um einen 'sunnitischen Korridor' von Aleppo bis Mossul zu schaffen und einen Großteil der syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei untergebracht sind, in diesem Gebiet ansiedeln. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der katastrophalen Wirtschaftslage abzulenken: Die Inflation liegt bei über 85 Prozent, und die Lira hat im vergangenen Jahr 50 Prozent gegenüber dem Dollar verloren. Eine Visitenkarte, die Erdoğans Erfolgsaussichten bei der Präsidentschaftswahl 2023 schmälert.“
Innenpolitik geht vor
Erdoğan geht nun auch auf Distanz zu den USA, analysiert die Süddeutsche Zeitung:
„Washington steht der YPG in Syrien nahe, die den sogenannten Islamischen Staat bekämpft hat. Schon nach dem infamen Anschlag auf einer beliebten Einkaufsstraße in Istanbul vergangene Woche hat Erdoğans Regierung schnell auch die Amerikaner attackiert, Mitgefühl aus Washington schroff zurückgewiesen, die PKK und YPG für den Anschlag verantwortlich gemacht. Eindeutige Beweise liegen dafür bislang nicht vor, aber das Kalkül in Ankara ist eindeutig: Der türkische Präsident ist sich sicher, dass er gerade gute Karten hat, um seine innenpolitische Agenda zu verfolgen.“
USA und Russland haben auch ihre Ziele
Laut der regierungskritischen Evrensel haben zwar die USA und Russland dem Angriff auf Nordsyrien zugestimmt, was aber nicht heißt, dass sie einer Bodenoffensive auch zustimmen:
„Beide imperialistischen Mächte wollen die Erdoğan-Regierung nicht konfrontieren. Sie versuchen aber auch zu verhindern, dass die Türkei einen Schritt unternimmt, der ihre eigenen Positionen in Syrien gefährden würde. Es ist bekannt, dass Erdoğans Beharren auf dieser Operation mit seinen eigenen politischen Bedürfnissen zusammenhängt, obwohl es offensichtlich ist, dass sie das Problem [des Terrorismus] nicht lösen wird. … Zunächst einmal scheint eine solche Operation für die Erdoğan-Regierung recht nützlich zu sein, um eine Atmosphäre der 'nationalen Einheit' zu schaffen und das Volk für eine nationalistische Politik zu gewinnen.“
Das Übel an der Wurzel packen
Für die regierungstreue Sabah gibt es nichts Neues:
„Es handelt sich um langfristige und breit angelegte Operationen. Sie werden seit etwa drei Jahren durchgeführt. Sie umfassen alle südlichen Grenzen der Türkei. … Die Türkei hat mit großer Entschlossenheit erklärt, dass die Quelle des Terrorismus jenseits ihrer Grenzen liegt und hat dazu eine aktive Haltung eingenommen. Anstatt sich zu verteidigen, versucht sie, den Terrorismus an der Wurzel zu packen.“
Hier wird mit zweierlei Maß gemessen
News247 ist empört:
„Die Türkei bombardiert Kobanê, die Kurden rufen um Hilfe, aber die Amerikaner stellen sich blind und taub. Erdoğans Türkei, ein Nato-Land, folgt nicht der Politik der Allianz, Russland zu sanktionieren. Es hat die Amerikaner mit dem Kauf russischer S-400 provoziert. Erdoğan äußert sich häufig gegen Biden und provoziert den Zorn der amerikanischen Senatoren. Aber die amerikanische Politik toleriert das alles. Jetzt greift die Türkei die kurdischen Verbündeten an und die Regierung Biden rührt keinen Finger. Das gilt auch für die EU und die einzelnen europäischen Länder. … Zynismus und Heuchelei. Doppelte Standards. Die Türkei tut das, was Russland in der Ukraine tut, nur in kleinerem Maßstab.“